Vom Tempel zu unseren Kirchen
Predigt am 09. November 2025
Einmal ist Jesus richtig wütend geworden – und das ausgerechnet in einer Kirche – im Tempel. Er ging dorthin, um zu beten. Aber das Beten dort wurde ihm schwergemacht. Große Unruhe störte und hinderte
ihn. Er hörte den Lärm, das Geschrei und Feilschen, die klirrenden Münzen der Händler, hörte, wie die gemästeten Opfertiere grunzten und blökten. Eine Atmosphäre wie auf einem Schlachthof! Eine
merkwürdige Art, Gott zu dienen: Du kaufst ein Tier, du lässt es schlachten, opfern, Gott darbringen, du murmelst Gebete dazu, und das war es dann. Jesus wurde also richtig wütend – er, der sonst so
sanftmütige, so liebevolle. Aber Liebe heißt ja nicht, zu allem Ja und Amen sagen. Aus Liebe muss man oft genug NEIN oder STOP rufen: So nicht! Hört auf!
Und dann machte er etwas, was an die Propheten erinnert. Er jagte die Händler und Geldwechsler hinaus, kippte die Tische um, ließ die Tauben davonfliegen – weit in den Himmel hinein, wohin sie gehörten.
Dabei rief er laut: „Was habt ihr aus dem Tempel gemacht? Einen Marktplatz, eine Räuberhöhle habt ihr jetzt!“ Geschäftemachen an heiliger Stätte – das prangert Jesus an. Aber damit schafft man sich
Feinde – gleich auf den ersten Seiten des Johannesevangeliums. Und die rufen nicht nur: „Der macht uns unser Geschäft kaputt“, sondern mehr noch: „Der da tastet unsere heiligsten Traditionen an. Der will
uns unseren Opferkult nehmen!“ Das war ja wirklich ein altehrwürdiger Kult in den meisten Religionen – auch heute noch: Ich gebe Gott etwas. Ich opfere eine Gabe: Früchte, Tiere – etwas von der
Schöpfung. Ich gebe es ihm zurück, denn eigentlich kommt ja alles von ihm. Und Gott gibt dann seinen Segen. Das Opfer war fast so etwas wie ein Tauschgeschäft: Ich gebe, damit du gibst.
Und da geht Jesus nun dazwischen, so ähnlich wie die Propheten früherer Zeiten. Denen war der Opferkult im Tempel nie geheuer gewesen. Immer wieder riefen sie im Namen Gottes aus: „Ich will eure Opfer
nicht! Sie hängen mir zum Hals heraus! Ich will keine Schafe und Ochsen. Ich will nicht eure Früchte, ich will nicht euer Geld! Ich will etwas ganz Anderes: Ich will – euer Herz! Was ich will, ist
Gerechtigkeit und Recht, Freude und Leben für alle Menschen. Was ihr mir da opfert – ich will es nicht! Gebt es den Witwen und Waisen, für die niemand sorgt. Gebt es den Armen. Das ist der Gottesdienst,
den ich mir wünsche: Gerechtigkeit will ich, nicht Brandopfer!“
So klang es bei den Propheten. So klingt es bei Jesus.
Diese Worte gelten immer noch. Auch heute! Und immer noch gilt: Der Ort Gottes ist – seit Jesus – woanders zu suchen. Man kann sagen: Gott ist umgezogen! Wo soll man Gott anbeten, wird Jesus einmal
gefragt, und er antwortet: „Die wahren Beter werden den Vater anbeten im Geist und in der Wahrheit.“ Das ist der neue Ort. Die Orte, an denen Jesus selber zu finden war, heißen z.B. Stall, Werkbank,
Marktplatz, Hecken und Zäune, Seen und Berge, Gastmähler und Feste und schließlich das Kreuz. Dazwischen auch Synagogen und Tempel. Ziemlich weltlich, diese Liste! Finden Sie nicht auch? Man kann sagen:
Wo Jesus hinkommt, kann auch das weltlichste Stück Welt zum Tempel werden, zum Raum des nahen Gottes, zum Ort des Staunens und der Anbetung. Wo wir hinkommen, können auch wir unser Stück Welt zum
Tempel – oder zur Hölle machen.
Der alte Tempel ist nicht mehr die gültige Hauptadresse. Ein paar Jahrzehnte später wird er außerdem zerstört – von den Römern. Der neue Tempel Gottes in der Welt heißt: Christus! Im Evangelium sagt
Jesus: „Reißt diesen Tempel nieder, in drei Tagen werde ich ihn wieder aufrichten!“ Und der Evangelist Johannes kommentiert: „Er aber meinte den Tempel seines Leibes.“ Der neue Tempel Gottes in der Welt
heißt: Christus – und er heißt auch: Christen! Denn wir sind der Leib Christi in der Welt. Was für ein Anspruch! Was für eine Zumutung! Wir sind Gottes Tempel in dieser Welt, ein Tempel aus lebendigen
Steinen.
Dennoch bleiben die Kirchräume wichtig. Sie sind die Treffpunkte der christlichen Gemeinden; hier feiern wir unsere Gottesdienste und empfangen die Sakramente. Hoffentlich stehen sie tagsüber offen: sie
laden ein zur Stille, zum Gebet, zum Entzünden einer Kerze, zur Besinnung und innerem Ausruhen. Die Kirchtürme, die nach oben ragen, sind wie ein Hinweis: Vergesst den Himmel nicht! Die Kirchräume selber
helfen uns, nicht im Alltag zu „versacken“ mit seinem Trubel und Tempo, mit seinen unzähligen Beschäftigungen und Ablenkungen. In der Stille des Kirchraums kann uns unsere Würde und unsere Berufung
deutlicher werden: Kinder Gottes zu sein, Brüder und Schwestern Jesu Christi. Aber auch die innere Leere kann zu spüren sein – die Schwierigkeit, Worte zu finden für Gott. Wir sollten dann weiter
„üben“, weiter versuchen zu beten. Kein Wort ist zu dumm, zu nichtssagend oder unangemessen, wenn es aus einem ehrlichen Herzen kommt.
Zur Wahrheit gehört auch, dass eine Kirche nach der anderen in unserem Land geschlossen wird – aus finanziellen Gründen, aus Mangel an Gläubigen und an Hauptamtlichen. Gerade Jüngere können mit Kirchen
nichts mehr anfangen, für manche sind die Kirchen wirklich lost places, verlorene Plätze. Wenn uns die Kirchräume fehlen, und das kann sehr weh tun, sollten wir vielleicht wieder unsere Wohnungen, vieles
in der Natur und manche „weltliche“ Orte als „heilige Räume“ entdecken, wo etwas von Gott aufleuchten kann.