Sonntag der Barmherzigkeit
- Erinnerung an einen barmherzigen Papst
Predigt am 27.04.2025
Als das neue Jahrtausend begann, hatte der damalige Papst Johannes Paul II eine programmatische Idee: Der Weiße Sonntag, oft geprägt durch die Erstkommunionen, sollte „Sonntag der Barmherzigkeit“ werden. Es
war ihm wichtig, vor allem mit dem Gottesbild des barmherzigen Vaters in die neue Zeit zu gehen. Diese neue Zeit schien ziemlich erbarmungslos zu werden mit ihren Kriegen und Konflikten, mit der
Massenmigration und dem Klimawandel, mit den Krisen der Demokratien und auch des kirchlichen Lebens. Polarisierung und Streit überall, jeder ist sich selbst der Nächste. Wo konnte man noch Orientierung und
aufbauenden Halt finden? Der alte Papst hielt sich an die Worte Jesu: „Seid barmherzig, so wie auch euer himmlischer Vater barmherzig ist.“ In der Barmherzigkeit steckt das Wort „Herz“ drin: Weitet euer Herz,
lasst euer Herz sprechen, verfangt euch nicht im berechnenden Denken (was habe ich davon?) – und ahmt so den Gott nach, der laut Jesus uns alle in seinem Herzen trägt.
Man braucht so einen wie Jesus, der die Barmherzigkeit nicht bloß gefordert und gepredigt hat. Nein, Jesus hat sie gelebt, vorgelebt, ins Leben übersetzt. Und solche Menschen brauchen wir auch heute.
Einen von diesen hat man gestern beerdigt. Auch Donald Trump kam und viele weitere Mächtige der Welt. Aber vor allem kamen Menschen, einfache Menschen ohne Zahl, die von Papst Franziskus ganz tief angesprochen
und in ihrem Herzen berührt wurden.
Franziskus war ein genialer Seelsorger, ein Gottesfreund und Menschenfreund. Ganz authentisch, seine Nähe zu den Menschen war nicht „gemacht“, die Popularität nicht gespielt. Auch als Papst war er der
Leute-Priester aus Buenos Aires, der ohne große schwülstige kirchliche Worte auskam. „Buona sera“, guten Abend, so begrüßte er die Menge auf dem Petersplatz nach seiner Papstwahl. Nicht: Laudetur Jesus
Christus, gelobt sei Jesus Christus. Buona sera. Sprache des Alltags.
Er hatte einen offenen Blick für die Situation der Menschen. Mich beeindruckt diese Anekdote: Der Papst hält sich in seinem Zimmer im Gästehaus St. Marta auf. Draußen auf dem Flur steht ein Schweizergardist
Wache, schon stundenlang. Alle sind daran gewöhnt. Das ist einfach so. Aber Franziskus durchbricht dieses Gewöhnungsdenken und sagt: „Komm Junge, du stehst dir ja die Beine in den Leib. Hier ist ein Stuhl,
setz dich drauf und ruh dich etwas aus.“ Nach einer weiteren Stunde kommt der Papst wieder heraus auf den Flur. Er hat in seiner Teeküche ein Brötchen geschmiert und gibt es dem Soldaten: „Hier, iss was, sonst
kippst du noch aus den Schuhen.“
Dieser besondere Blick für den Menschen war das herausragende Charisma des Papstes. Besonders im Blick hatte er die Armen. Er stand an der Seite derer, die von der Mehrheit schief angesehen wurden. Einer
seiner letzten Besuche – am Gründonnerstag – galt den Gefangenen im Gefängnis von Ribibbia bei Rom. Zur Fußwaschung reichte seine Kraft nicht mehr. Aber er wollte noch einmal bei den Strafgefangenen sein. Alle
drängten sich um den sterbenskranken Papst. Viele weinten. Wo gab es das sonst – diese Nähe zu schuldig Gewordenen, vielleicht zu Drogenhändlern, zu Mördern? „Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die
Kranken“, hatte Jesus gesagt. Franziskus nahm das ernst, lebte das. Und brachte so in vielen Menschen einiges ins Rollen.
Die Leute waren von der Kirche anderes gewohnt. Eher: Missbilligung. Distanz zu den Außenseitern. Zu allem, was nicht der Norm entsprach. Das kirchliche Urteil über uneheliche Kinder, über gescheiterte Ehen,
über Homosexuelle, über Suizide usw. war lange Zeit lieblos. Sagen wir es deutlich: unchristlich. Kirche erschien als Versammlung der Gutbürgerlichen, die auf ihre vermeintlich „weißen Westen“ stolz waren und
sich in ihrer Anständigkeit sonnten. Diese pharisäische Haltung hat Franziskus mit scharfen Worten gegeißelt und sich oft so zwischen alle Stühle gesetzt. Ja, er war unbarmherzig mit den Selbstgerechten, mit
denen, die auf die anderen herunterblickten. Berühmt sind seine Weihnachtsansprachen für die römische Kurie, wo er den Kardinälen und Prälaten in Rom die Gefahren des Hochmuts, der inneren Erstarrung und der
Selbstbezogenheit vor Augen stellte und sie anwies, den Armen, den Gescheiterten, den vom Leben Bedrängten innerlich Raum zu geben. Und da brachte er auch dieses Bild: die Kirche ist für ihn wie ein
Feldlazarett. Ein Zufluchtsort, ein Ort, wo man sein darf und willkommen ist, so wie man ist. Und wo dadurch Heilung geschehen kann.
Seine erste Reise 2013 ging nicht in die Zentren der Macht, sondern nach Lampedusa. Das Schicksal der Bootsflüchtlinge, von denen Tausende im Mittelmeer ertranken, nahm ihn sehr mit. Und da sprach er Sätze,
die tief berührten. „Wer hat um den Tod dieser Brüder und Schwestern geweint? Um die jungen Mütter, die ihre Kinder trugen? Um diese Männer, die sich etwas wünschten, um ihre Familien ernähren zu können? Wir
sind eine Gesellschaft, die das Weinen, das Mit-Leiden verlernt hat. Die Globalisierung der Gleichgültigkeit hat uns die Fähigkeit zu weinen genommen!“
Wer warnt heute noch vor dieser Gleichgültigkeit? Wer lädt heute noch zur Barm- und Warmherzigkeit ein – nicht als Schlagwort und in Sonntagsreden, sondern glaubwürdig und überzeugend? Weil er sie als
göttlichen Impuls erfahren hat? Da sind nicht mehr viele, und so wird uns Franziskus sehr fehlen.
Im heutigen Evangelium – Christus und Thomas – lädt der Herr seinen skeptischen und zweifelnden Apostel ein, die Wunden und Wundmale zu berühren. Jesus weist den Thomas nicht zurecht, kritisiert ihn nicht,
sondern lässt ihn an sich heran, an seinen Leib, hautnah. Franziskus hat Ähnliches getan. Auch er hat eine große Einladung ausgesprochen: Wir dürfen die Wunden der Welt nicht ignorieren, nicht verdrängen,
nicht die Augen zumachen. Wir können sie „berühren“ und vor allem: uns von ihnen berühren lassen. Barmherzigkeit ist die Botschaft. Und Franziskus war und ist der Bote. Der Bote Gottes in einer Welt, die
diesen Impuls so dringend braucht!