Hunderte Tücher im Apfelbaum
Predigt am 30.03.2025
Ich möchte mit einer Geschichte beginnen, die viele Menschen in aller Welt bewegt hat. Guy Gilbert hat sie erzählt, ein in Frankreich sehr bekannter Priester. “Rockerpfarrer“ sagt man über ihn, weil er sehr
mit schwierigen Jugendlichen und mit Strafgefangenen verbunden ist. Verbunden ist er aber auch mit dem belgischen Königshaus, das ihn in seiner sozialen Arbeit unterstützt. Bei der Hochzeit eines belgischen
Prinzen, die vom Fernsehen übertragen wurde, hat er die Predigt gehalten, - und da hieß es sinngemäß:
Ein junger Mann, 23 Jahre alt, hatte auf heftige Weise seine Eltern beleidigt. Die Familie kam nicht darüber hinweg. Der Vater sagte: „Jean, mach, dass du wegkommst! Und lass dich hier niemals mehr
blicken!“
Jean ging fort. Todunglücklich. Er dachte immerzu: „Ich habe mich wie ein Schuft benommen! Wie kann ich das bloß wieder in Ordnung bringen!“ Aber er hatte Angst vor einem erneuten Rauswurf – und so schrieb
er seinem Vater einen Brief. „Papa, ich habe wirklich großen Mist gebaut. Kannst du mir verzeihen? Ich schreibe keinen Absender auf den Umschlag, nein. Aber wenn du mir verzeihen kannst, dann häng bitte an
einen der vielen Apfelbäume vor unserem Haus ein weißes Halstuch. Dann weiß ich, dass ich wieder nach Hause kommen darf!“
Einen Tag später telefonierte Jean mit seinem Freund Marc und sagte: „Marc, ich bitte dich, fahr mit mir. Es geht zu meinem Elternhaus. Fahr du den Wagen, ich bin zu aufgeregt. Lass uns sehen, ob da ein
weißes Halstuch hängt. Wenn nicht, fahren wir wieder um. Dann ist der Bruch da. Aber wenn ja, dann bin ich der glücklichste Mensch auf Erden!
Und so machten sie es. Mit vielen Ängsten und sehr beklommen saß Jean auf dem Beifahrersitz. Er hielt die Augen geschlossen, als sie in die Nähe seines Elternhauses kamen, und fragte seinen Freund: „Marc,
sag, hängt da ein Tuch an den Bäumen?“ Marc antwortete: „Nein – es hängt nicht e i n Tuch da, es hängen bestimmt hundert Tücher an allen Apfelbäumen vor eurem Haus!“
Soweit die Geschichte. Hundert Tücher! Was für Eltern! Was für ein Vater! Wir erfahren in der Geschichte kaum etwas über ihn. Dass er den Sohn rauswirft, können wir wahrscheinlich nachvollziehen. Die
Verletzung war zu groß! Aber die Heilung, die Vergebung ist noch größer! Hundert Tücher, die das zeigen! Was für ein Überschwang, was für eine großzügige Barmherzigkeit!
Der Prediger Guy Gilbert hat damals seine Hörer und Hörerinnen, darunter das belgische Königspaar, zu Tränen gerührt. Viele Leute in der Kirche, so ahnte der Priester wohl, leben in gespannten Verhältnissen.
Viele kaputte Ehen und Partnerschaften, viel Lieblosigkeit, viele berufliche und gesellschaftliche Konflikte bringen sie mit, auch sie, die „feinen Leute“! Auch Königsfamilien und die „Upper Class“ sind
keine heile Welt… „Seid barmherzig“, wiederholte Guy Gilbert immer wieder. „Bringt Barmherzigkeit in eine unbarmherzige Welt!“
Davon spricht auch unser Gleichnis. Auch hier ein Überschwang an Freude und Versöhnung beim Vater! „Steckt dem Sohn einen Ring an den Finger! Schlachtet ein Kalb! Bereitet ein Fest vor!“, ruft der Vater im
Gleichnis aus. Die Zuhörenden wussten: Da wird von Gott erzählt. Der ist kein Richtertyp, kein Diktator, keiner, der „Heulen und Zähneknirschen verbreitet“. Und darum heißt das Gleichnis heute nicht mehr
„Geschichte vom verlorenen Sohn“, sondern „Geschichte vom barmherzigen Vater“. Denn auf den – auf den Vater – kommt es in diesem Gleichnis an. Die Zuhörenden spürten: Gott ist so anders! Er hat andere
Maßstäbe als wir! Wir – wir rechnen eher. Rechnen wie der jüngere Sohn: Das Erbe geht hauptsächlich an den älteren Bruder. Für mich bleibt nicht viel. Den Hof kriege ich nicht. Ich habe da keine Zukunft!
Dann lasse ich mich lieber ausbezahlen. Oder wir rechnen vielleicht wie der ältere Sohn: Was ist das denn? Ringe und Mastkalb und eine Fete für diesen Taugenichts? Der Alte fängt langsam an zu spinnen! Mir
hat er das nie gegeben. Aber Leistung zählt wohl nicht mehr.
Ja, so rechnen die Söhne. Ziehen Bilanzen, finden sich ungerecht behandelt. Sehen den Vater nicht mehr richtig. Und sind darum „verloren“. Alle beide.
Warum hilft mir Gott nicht? Was hat er gegen mich? Anderen geht es gut. Und wo bleibe ich? Wir rechnen oft unser Leben aus. Aber die Liebe rechnet nicht.
Eine junge Frau erzählte mir: „Ich habe in meinem Leben nur Pech gehabt. Alkoholismus im Elternhaus, viel Todesfälle in der Familie, mehrere gescheiterte Beziehungen. Ich bin immer an den falschen Mann
geraten. Mit 30 hatte ich eigentlich schon mit meinem Leben abgeschlossen. Aber dann kam bald durch eine Kette von glücklichen Fügungen der Richtige! Wir haben sofort gespürt, dass wir zusammengehören. Sie
können mir glauben: Mein Freund ist für mich wie ein Beweis, dass es Gott gibt!“
Ja, so zeigt sich wohl die Barmherzigkeit Gottes: durch gute barmherzige Menschen. Die zwei verlorenen Söhne – der eine verloren in der Fremde, der andere verloren und hart geworden zuhause – müssen das
noch lernen. Müssen noch mehr auf den Vater schauen, müssen es „abgucken“, was sie am Vater haben. Für ihn sind beide – und alle Menschen – wertvoll. Von ihm wird keiner abgeschrieben. Wer das spürt und
erfährt, ist bereits im Fest dabei.