Gedanken zum Goldenes Priesterjubiläum
März 2025
Als ich vor 50 Jahren meine Primiz, meine erste Messe feierte, predigte mein Heimatpfarrer Karl Johannes Heyer, der Gründer der Pax-Christi-Gemeinde in Essen. Die Seligpreisungen Jesu standen damals als
Tagesevangelium an, und mit großem Nachdruck wurde die erste ausgelegt: „Selig, die arm sind vor Gott.“ Der Prediger zitierte ebenfalls nachdrücklich die letzten Worte von Martin Luther auf dem
Sterbebett: „Wir sind Bettler – das ist wahr.“
Diese Predigt gefiel manchen Leuten damals nicht besonders. Sie dachten wohl: Primiz – da muss doch eine Festpredigt her! Festliche Worte! Etwas Erhebendes! Feierlichkeit! Und was kriegen wir zu hören:
Wir sind Bettler, das ist wahr.
Nach 50 Jahren Priestersein und Gemeindeerfahrung auf dem Buckel, nach üppigen und kargen Zeiten stehe ich zu diesem Wort, diesem Bild vom Bettler mehr denn je. Ich tue dies trotz festem und nicht zu
knappem Gehalt, trotz schöner Wohnung, trotz gesellschaftlichen Ansehens, trotz großem Bekanntenkreis. Ich bin ein Bettler in Bezug auf Gott, und jeder und jede hier in der Kirche könnte und sollte das
auch von sich sagen.
Bettler – das heißt: Ich bin angewiesen. Angewiesen auf Menschen, die mitgehen, die suchen, und die glauben, bei Jesus Christus „fündig“ geworden zu sein. Diese Menschen kann ich nicht „herbeizwingen“
und nicht „produzieren“. Ich kann keine Werbestrategien und keine Marketingtricks einsetzen – höchstens: Glaubwürdigkeit. Wenn diese Menschen sich finden lassen und zusammenfinden, ist das heute wie ein
riesiges Geschenk.
In früheren Zeiten und Jahrzehnten kam das wohl weniger deutlich raus. Da war die Volkskirche noch recht präsent, das Dorf zog sozusagen geschlossen zur Kirche. Heute dagegen bringt jeder seine ganz
eigene individuelle Geschichte mit. Wie schwer ist es, bei einer solchen Unterschiedlichkeit und Diversität der Menschen den richtigen Ton, den „Kairos“ zu treffen! Und so kann der Prediger eigentlich
nur bitten, Gott bitten – wie ein Bettler –, das eigene Herz und die Herzen der anderen aufzuschließen für den Glauben, für das Evangelium. Würde man das Erfolgsdenken etwa der Wirtschaft auf unsereins
anwenden, müssten wir wohl alle passen und die Insolvenz anmelden. In meinen 35 Jahren in Lüdenscheid ging z.B. der Kirchbesuch von 1000 auf vielleicht 150 Leute zurück; wir Grauköpfe sind heute ziemlich
unter uns. Der „Macher“ in mir kommt damit nur schwer zurecht, erlebt das fast wie eine Kränkung. Nur der „Bettler“ hält das aus – in einer Haltung der „Demut“, die nicht um sich selber kreist und alles
auf sich selbst bezieht, sondern eher auf Gott, der uns in der großen aktuellen Gotteskrise und Gottvergessenheit sicher etwas sagen will.
Manchmal denke ich: Kaum noch etwas ist selbstverständlich, für die Leute und für mich selber muss alles wie neu durchbuchstabiert werden. Da hilft keine jahrzehntelange Routine. Offensichtlich kann man
von Gott nur stottern. „Ich stottere immer noch,“ sagte mein damals 70jähriger Heimatpfarrer in der Primizpredigt. Man „weiß nicht Bescheid“, wie man vielleicht in Geschichte oder in Politik Bescheid
weiß. Man kann nur etwas „ahnen“, aber diese Ahnungen kann man mitteilen, man kann sie sich gegenseitig erzählen. Und davon lebt der Glaube, lebt die Kirche – vom Erzählen. Sie ist als
„Erzählgemeinschaft“ gut beschrieben.
Wir besitzen Gott nicht. Aber wir vertrauen ihm – dem Gott, der schweigt und manchmal redet, der verborgen ist und versteckt ist in den Dingen und manchmal sozusagen „offenliegt“ – am deutlichsten in
Jesus. Die Jahre reichen nicht, um ihn zu erfassen, und das macht uns zu Bettlern in Bezug auf Gott: Wir besitzen ihn nicht. Er steht uns nicht beliebig zur Verfügung. Vielleicht strecken wir die Hand
nach ihm aus – wie die russische Bettlerin in der Skulptur von Ernst Barlach –, halten die Hand hin wie eine Schale: Fülle du die leeren Hände, Gott. Ich kann‘s selber nicht. Oder wir, die Bettler sagen:
Herr, erbarme dich. Oder wir gebrauchen das alte, leider aus der Mode gekommene Wort Gnade: Wir schaffen dein Reich nicht, wir stellen es nicht her, Gott: Du wirst es wachsen und reifen lassen und segnen.
Du …
Manchmal, und das sind glückliche Momente, spüren wir, dass wir gesegnet sind, dass Gott sozusagen unsere ausgestreckte Hand ergriffen hat. Manchmal spüren wir, dass unsere Grenzen (die Grenzen unserer Kraft,
unserer Leistung) zu einer Brücke werden, und nicht zu einem Graben. Manchmal ahnen wir, dass Jesus Christus wirklich der Mitgeher ist, seine Hand auf unserer Schulter – wie in der berühmten Ikone aus Taizé.
Und auch das gehört zu unserem Bettlersein: Jeder allein, auf eigene Faust: das geht nicht! Jeder seine eigene „Ich-AG“: wie schrecklich! Wir sind auf den großen Mitgeher und die vielen kleinen Mitgeherinnen
und Mitgeher angewiesen. Darum, schrieb einmal ein großer Prediger, „lasst uns aus den vielen Ich-AGs eine neue Gesellschaftsform machen: eine GmbH – eine Gemeinschaft mit begründeter Hoffnung!“
Im Johannesevangelium gibt es einen Bettler, der obendrein noch blind ist. Seine Heilung wird so erzählt: Jesus streicht ihm einen Teig auf die Augen. Damit wird zunächst alles noch finsterer. Dann schickt er
den blinden Bettler los zum Teich Schiloach. Er solle sich dort waschen. Und der Blinde geht los – und kommt zurück – und kann sehen. Gehen – ins Dunkle hinein – und auf dem Weg sehen lernen. Später fügt der
Blinde hinzu: „Ich glaube, Herr“ und wirft sich vor Jesus nieder.
Da wird ganz kurz eine gewaltige Entwicklung beschrieben. Einer geht – und sieht – und glaubt. Gehen, sehen, glauben, diese Reihenfolge. Immer fängt es mit dem Gehen an: Gehen zum Teich oder ins Sauerland oder
wo immer Gott einen hinhaben will. Die ganze Lebensgeschichte kann sich dann ausdrücken in dem wunderbaren Psalmwort: Du führst mich hinaus ins Weite. Du machst meine Finsternis hell.
Das ist die Erfahrung des blinden Bettlers, und vielleicht ist es auch unsere eigene Erfahrung. Wir starteten als junge Leute damals in den 70er Jahren mit dem Empfinden „Was kostet die Welt“. Mit den Jahren
lernen wir, dass die Welt ihren Preis hat und wir diesen Preis bezahlen müssen. Wir können dabei geistig pleitegehen. Das passiert so manchem, der auf Geld, Karriere, Erfolg und Spaß gesetzt hat und vergaß,
den Vorrat an lebendiger Hoffnung aufzufüllen. An begründeter Hoffnung sogar!
Wir Christen sehen in Jesus den Grund der Hoffnung. Wir hoffen, dass bei allen Widrigkeiten, Pannen und Pleiten unser Weg sinnvoll und gesegnet bleibt und in die Weite führt.
Von diesem „festen Grund unserer Hoffnung“ müssen wir reden und erzählen – wir alle. Wenn wir das nicht tun, wird es keine Kirche mehr geben. Eine „stumme Christenheit“ wird sterben. Wozu wäre sie auch gut?
Eine „redende“ und vor allem durch Taten sprechende Kirche wird leben und ausstrahlen. Sie muss raus aus der Unverbindlichkeit und raus aus der Resignation. Sie muss nicht zu allem ihre Meinung dazugeben, sie
weiß nicht alles, sie weiß auch nichts besser, aber den festen Grund ihrer Hoffnung soll und muss sie aussprechen. Am besten tut sie das, wenn sie feiert – vor allem: die Eucharistie feiert. Dann zeigt sich
uns das Licht. Uns, die wir dem Bettler in seiner Blindheit gleichen, zeigt sich das Licht. Deswegen – wegen des Lichts in der mit Händen zu greifenden existentiellen Dunkelheit – können wir unseren Weg mit
Freude gehen.
Im Glauben gehorchte Abraham, als der Ruf an ihn erging, und er wanderte aus, ohne zu wissen, wohin es ging (Hebr 11). Dieses Wort aus dem Hebräerbrief hat sich damals unser ganzer Weihekurs – 13 Mann – als
Primizspruch, als „Motto“ ausgesucht. Das war und ist unser „geistliches Lebensgefühl“: Ohne zu wissen, wohin es ging. Unserem Bischof Franz Hengsbach mit seiner Witterung für Hintergründiges gefiel diese Wahl
gar nicht. „Ihr wisst genau, wohin ihr geht,“ rief er in der Predigt, „nämlich ins Priestertum der Kirche!“ Ja, natürlich. Aber das ist ein offener Weg. Eine offene Zukunft liegt uns immer voraus. Wir wissen
nicht, wohin wir geführt werden. Die bisherigen Entwicklungen und Reformen, die unsere Aufmerksamkeit zur Zeit so sehr einfordern, sind in dem Ganzen des Weges vielleicht nur ein kleiner Schritt. Wohin Gott
die Kirche in Deutschland und im Märkischen Kreis führt in den nächsten zwanzig oder dreißig Jahren, wenn die jetzige kirchentragende Generation sehr alt oder nicht mehr da ist – Er allein weiß es.
Ich möchte den Weg weitergehen in innerer Freiheit und Gelassenheit, und nah an diesem Gebet:
Herr, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann. Gib mir den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann. Und gib mir die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.
So etwa darf ein „Bettler“ beten.