Weihnachten

Weihnachtspredigt 2024

Wieder geht ein Jahr zu Ende, ein Jahr, das wir – vielleicht alle – als dunkel erleben. Kleine Lichtblicke und Freuden sind in jedem Leben da, aber insgesamt hat sich die Welt kaum zum Guten verändert.
In dieser Situation feiern wir Weihnachten und tragen die Sehnsucht in uns, nicht vom Negativen und Dunklen überrannt und beherrscht zu werden, sondern ins Licht schauen zu können – und dem Licht zu vertrauen.

Ein Lichtspalt ist uns gegeben, sagt das Bild der Stuttgarter Künstlerin Hilde Reiser (1929-2019) aus dem Jahr 2008.
Beim Betrachten fiel mir zunächst eine Liedzeile des amerikanischen Sängers Leonard Cohen ein: „There is a crack in everything. That‘s how the light gets in. Es gibt einen Riss in allen Dingen. So kommt das Licht herein.“ Einen Riss in der Oberfläche, einen Riss in der reinen Routine, in den festen Gewohnheiten des Alltags, einen Hoffnungsriss. Einen Riss, der uns verwundert, vielleicht auch verstört. Risse mögen wir eigentlich nicht – Risse, die etwas zerreißen – und wir wollen sie dann gleich wieder zunähen oder zuspachteln. Aber es kann ja sein, dass der Riss etwas anderes durchscheinen lässt: das Licht.

Wir können den Riss mit jedem großen Glaubensfest verbinden, mit Weihnachten, mit Ostern und mit Pfingsten. Ostern ist das wichtigste Fest. Da erscheint ein tiefer Riss in der festen, unüberwindlichen Betonmauer des Todes. Durch diese Todesmauer kommt keiner hindurch. Doch – sagt Ostern: „Das Leben hat besiegt den Tod. Der Herr ist auferstanden!“
Zu Pfingsten singen wir: „Komm herab, o heilger Geist, der die finstre Nacht zerreißt, strahle Licht in diese Welt!“ Die finstere Nacht, die tiefe Dunkelheit wird aufgerissen, – die Dunkelheit, zu der auch unsere Schwächen, Wunden, Narben und Bruchstellen gehören. An diesen Stellen sind wir sozusagen „dünnhäutig“ und damit offener und empfänglich für das einfallende Licht. Das Licht, das immer da ist, bahnt sich seinen Weg und entmachtet das Dunkel.

Welches Licht ist nun stark genug, um die finstere Nacht auf Dauer zu zerreißen?
Gerade am Weihnachtsfest richtet sich unsere Hoffnung auf das göttliche, himmlische Licht. In diesem Bild ist es die Grundlage, grundiert und umgibt alles und strahlt durch den Riss, durch die Bruchstelle, den Lichtspalt, durch eine Art „Nabelschnur“ in den roten Bereich. Der rote Bereich: Das ist unsere Welt – oder auch: unser menschliches Herz – auf jeden Fall: Wir! In uns Menschen, in unserer Kirche, in der Politik, in der Gesellschaft - überall gibt es Bruchstellen: Unfrieden, Gewalt, ...

Sehen wir doch diese Bruchstellen an, offen, ehrlich, klar. Jammern wir nicht darüber, sondern sehen, erkennen, dass genau da etwas geschehen kann: da, genau da kann ein Lichtstrahl in unser Leben einfallen, Gottes Lichtstrahl, Gott mit seinen Möglichkeiten, und es geschehen ungeahnte Dinge.

Die Welt und das Herz sind in unserem Bild reines Chaos. Ein wildes Durcheinander! Ein großes Kreuz ist hineingekritzelt, Dornen, Stacheln oder Speere ragen heraus, Hinweise auf den Unfrieden und die Gewalt, die das Leben so dornig machen. Aber durch den Lichtstrahl wird das Elend erst erkennbar, und der schlimmen Wirklichkeit tritt etwas anderes gegenüber und führt uns weiter: Das, was möglich ist. So kommen die Möglichkeiten Gottes ins Bild, die weiterführen: Was wäre, wenn wir Menschen ihnen folgen - und dem Licht folgen?

Eine Möglichkeit Gottes ist z.B.: Mensch zu werden!!! Eigentlich unvorstellbar für uns: der absolute, unfassbare Gott – in der winzigen Gestalt eines Säuglings in Windeln – und dann noch im Schmutz eines Stalls und einer Krippe! So hat man sich Gott dann doch nicht vorgestellt! Aber das Jesuskind strahlt wie ein Kerzenlicht! Wie das Innere einer Flamme erleuchtet es die anderen mit warmem Licht. Denn: Gott wird Mensch. Und uns gilt der Rat: Mach‘ s wie Gott – werde Mensch!

Maria ist die erste, die sich von diesem Licht bescheinen und anstecken lässt. Im Bild ist sie nicht allein. Da sind noch eine Menge Leute, die mit einer starken Sehnsucht „aus dem Schatten des Todes“ herauswollen, sich dem Licht zuwenden, es in sich aufnehmen und weitertragen. Viele andere bleiben dagegen ganz im Dunkeln. Der Glaube ist ihnen fremd. Aber vielleicht können wir – stellvertretend für sie – mitglauben und mitbeten: z.B. die Großeltern für ihre Enkel, die das Wort „Gott“ nicht mehr zu berühren scheint.

Ich höre im Fernsehen die inzwischen 103-jährige jüdische Holocaustüberlebende Margot Friedländer zu jungen Leuten sagen: „Sei ein Mensch!“ Das klingt erstmal so flach und so selbstverständlich, ist aber alles andere als das! Sei ein Mensch – das ist die Frucht einer Lebensweisheit, die durch finsterste Schluchten hindurchging, aber die durch ihre Bruchstellen immer wieder Licht einfallen ließ und auch die Schönheit des Lebens erfuhr. Dazu gehört, dass man im anderen immer das Kind Gottes als Gottes Schöpfung erkennt. Im Blick auf den gemeinsamen Ursprung und gemeinsamen Vater werden wir ja zu Brüdern und Schwestern. Sei ein Mensch und folge Jesus, dem idealen Bild des Menschen.

Um das Kind Jesus und seine Mutter breitet sich ein strahlend heller Raum aus. In ihm wird mit dem Licht nicht gegeizt! Mögen wir alle dazugehören zu diesem Raum der Hoffnung – unsere Familien, Freunde, Bekannten und Gemeinden. So dass das Kind in der Krippe, das Licht der Welt glücklich in uns ankommen kann.

Ein Lied von Eugen Eckert fasst das alles gut zusammen:

Die Nacht durchbrich mit deinem Licht,
bist du bei uns, verirr‘n wir nicht.
Wir finden Wege durch die Zeit,
durchbricht dein Licht die Dunkelheit.

Die Nacht durchbrich mit deinem Licht,
es leuchte uns dein Angesicht,
dass wir bei dir geborgen sind,
in kalter Zeit, in rauhem Wind.