Gerechtigkeit

Predigt am 1. Advent 01.12.2024

Gerechtigkeit? Da sind wir als Kinder schon sehr empfindlich. „Das ist ungerecht!“, protestiert der Erstklässler, weil ein anderer bevorzugt wurde. Ich kann mich erinnern, dass ich als Messdiener nie die begehrten Dienste bekam (Weihrauch oder Kreuzträger), weil ich kürzer geraten war als die anderen. Lange war ich immer nur als Kerzenträger in den Festmessen aufgestellt – der Dienst der Kleineren und Jüngeren. Es fehlten halt ein paar Zentimeter! So war nichts mit „Messdienerkarriere“! Ich war gekränkt und fand das ungerecht.

Jeder und jede kann wohl solche Geschichten aus der Kindheit erzählen: dass der Bruder immer das größere Stück Fleisch bekam und die Schwester mehr Mutterliebe und die schöneren Weihnachtsgeschenke. So hat denn der eine oder die andere schon früh empfunden, dass die Welt eine etwas „ungerechte Veranstaltung“ ist – im Kleinen wie im Großen.

Gerechtigkeit ist eine der wichtigsten Sehnsüchte der Menschheit. Wer will nicht gerecht behandelt werden? Jeder will bekommen, was ihm „zukommt“, was ihm zusteht, was er sich verdient hat. „Jedem das Seine“, ruft die Gerechtigkeit. Ungleicher Lohn bei gleicher Arbeit ist also ungerecht. Dass Frauen fast automatisch weniger verdienten als Männer, ist ungerecht. Die beiden Waagschalen der Gerechtigkeitswaage sollten im Gleichgewicht sein.

In der ersten Lesung aus dem Buch des Propheten Jeremia ist von einem Spross – einem Messias, einem Heiland – die Rede, der kommen wird: „Er wird für Recht und Gerechtigkeit sorgen im Land“ (Jer 33,15b). Das ist auch der große Wunsch des Volkes Israel, das doch die meiste Zeit seiner Geschichte unter Fremdherrschaft stand und wenig Gerechtigkeit erlebte. Diese Gerechtigkeit hat Israel nie von einem anderen erwartet als von seinem Gott – „Jahwe ist unsere Gerechtigkeit“ (Jer 33,16d).

Besonders drückend in Israel war die soziale Ungerechtigkeit und das Versagen der Könige. Die Propheten waren entsetzt, als sie das Unrecht miterlebten. Den Adligen und anderen Großgrundbesitzern gehörten große Teile des Grund und Bodens, die Bauern waren oft nur Pächter und stöhnten über die wachsenden Steuern und Pachtgebühren, die ihnen kaum Luft zum Leben ließen. Wer verschuldet war, wurde ins Gefängnis oder in den Schuldturm geworfen. Jesu Gleichnisse erzählen davon, und auch in den Psalmen beklagen sich die Beter über die „Feinde“, die einem das Leben schwer machen und die Ungerechtigkeit vergrößern: korrupte Richter, herzlose Beamte oder verleumderische Nachbarn. Viele Psalmen sind wie ein Schrei: Herr, befreie uns! Herr, schaffe Gerechtigkeit! Und diese mangelnde Gerechtigkeit ist bis heute geblieben: Ganze Länder versinken in hoffnungsloser Armut, auch weil die Güter ungerecht verteilt sind, einige wenige den Rahm abschöpfen und anderen keine Chance lassen.

Die Propheten und auch Jesus sahen das deutlich. Sie kannten die traurige Wirklichkeit, aber sie ahnten auch die Möglichkeiten: das, was möglich wäre, wenn Menschen nach dem Willen und den Weisungen Gottes lebten – in einer guten gerechten Ordnung. Ja, „der Herr – Jahwe – ist unsere Gerechtigkeit“! So sprachen sie von der Gottesherrschaft, vom Reich Gottes, in dem die Gerechtigkeit herrscht. Aber die fällt nicht einfach vom Himmel! Wir Menschen sollen den Plan Gottes für die Welt verwirklichen, Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen Gottes sein, Bürger in seinem Reich. Einem Reich, in dem die Gottes- und Nächstenliebe gewollt wird und gelebt wird. Einem Reich, in dem wir die Seligpreisungen Jesu beachten, z.B. Friedensstifter zu sein, oder „zu hungern und zu dürsten nach der Gerechtigkeit“. Immer wieder haben wir Umkehr nötig.

Diese Ausrichtung und Haltung zu vertiefen – dafür ist der Advent eine gute Zeit. Der Advent ist nicht nur die Zeit der Plätzchen, des Glühweins und der Weihnachtsmärkte. Advent ist auch die Zeit der großen Fragen der Menschheit – etwa der nach der Gerechtigkeit. Dort, wo Gerechtigkeit geschieht und wächst – im Kleinen wie im Großen –, dort geschieht wirklich Gottesdienst. Gottesdienst nicht bloß liturgisch in der Kirche, sondern ganz real mitten in der Welt! Wo Menschen den Willen Gottes „beherzigen“, ihn in ihr Herz aufnehmen und ins Leben umsetzen, da werden Gottes Verheißungen wahr.

Auch im heutigen Evangelium ist letztlich von der Gerechtigkeit die Rede. Die Sprache ist uns fremd, weil sie ein endzeitliches Szenario beschreibt, das wir heute nicht wirklich verstehen können. Lukas schrieb in einer Zeit, die von Endzeitstimmung geprägt war, auch weil der Tempel in Jerusalem zerstört wurde und das Volk seine geistige Heimat verloren hatte. Da wurden Bilder gemalt, wie am Ende dann doch noch göttliche Gerechtigkeit sich Bahn brechen könnte. In all dem Chaos ist von Heil und Erlösung die Rede. „Richtet euch auf und erhebt eure Häupter“, sagt Jesus. „Seid wachsam und betet allezeit“ (Lk 21,34). Diese Worte wollen keine Angst machen; sie wollen nicht knechten, sondern ermutigen. Die Welt wird dort gerechter und heiler, wo Menschen nicht blind durch das Leben laufen, sondern Ungerechtes sehen, benennen und beenden; wo Menschen auch den Mut haben, sich zu dem Gott zu bekennen, der unsere Erlösung und unser Heil will – denn: „Jahwe ist unsere Gerechtigkeit!“