MISEREOR - Doch die Bohne

Predigt am 17.03.2024

„Jetzt ist meine Seele erschüttert – was soll ich sagen?“

In seiner letzten öffentlichen Rede findet Jesus ergreifende Worte. Alles scheint ihm durcheinandergeraten. Er ahnt, dass der Tod nah ist, dass er sein Leben loslassen muss, damit es Frucht bringt für die Menschen. Wie ein Weizenkorn: es wird „begraben“, in die Erde gesenkt – und wir leben davon, leben vom Brot.

Jetzt ist meine Seele erschüttert. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht mit dem Elend in der Welt – mit Gaza, mit der Ukraine, mit Haiti oder mit Syrien. Ich fühle mich zunehmend hilflos, ohnmächtig, wie überfordert. Ich möchte das Elend nicht verdrängen. Ich hoffe, dass es uns weiterhin erschüttert, uns berührt, auch „zu unserer Sache wird“.

Die Aktion MISEREOR jedenfalls versucht, von Jahr zu Jahr immer wieder neu eine Brücke zu schlagen zwischen uns und den Menschen in Afrika oder Lateinamerika. Das Motto ist diesmal etwas salopp und provozierend: Interessiert mich die Bohne… Auf dem Plakat streckt uns ein indianischer Junge eine einzelne Bohne entgegen. Meistens ist ja noch ein „Nicht“ dabei: Es interessiert mich n i c h t die Bohne, sagt man eher. Hier geht es um die Bohnen als Grundnahrungsmittel etwa in Kolumbien. Misereor setzt sich sehr dafür ein, dass sich die Lebensbedingungen kleinbäuerlicher Familien verbessern, dass die Anbaumethoden größeren Ertrag bringen und eine gute und gesunde Ernährung möglich ist. Für Christen ist es von großem Interesse, das Elend in der Welt zu mindern. Die ganze Erde soll ein Ort sein, an dem Menschen Gott danken können für die Gaben der Schöpfung, die unser Leben sichern.

Jetzt ist meine Seele erschüttert – was soll ich sagen? Manchmal scheint angesichts der Größe und Vielzahl der „Baustellen“ und der Ohnmacht, die wir spüren, nur das Schweigen und Verstummen zu bleiben. Ja: Was soll ich sagen, was soll ich tun?

Manchmal ist es wichtig, sich nachdrücklich und eindeutig den Kräften der Ungerechtigkeit, der Verdrängung und Lüge, der Gleichgültigkeit und Resignation zu stellen, nicht einfach mit einem Schulterzucken darüber hinwegzugehen und der Frage standzuhalten: Was ist eigentlich los in der Welt? Was ist eigentlich los mit uns Menschen?

Und Jesus Christus? Weiß auch er nicht mehr zu sagen? Seine Antwort in diesem Evangelium ist: „Jetzt wird Gericht gehalten über diese Welt. Jetzt wird der Herrscher dieser Welt hinausgeworfen werden. Und ich, wenn ich über die Erde erhöht bin, werde alle zu mir ziehen.“(Jo 12,32) Eigenartig! Jesus weiß, wie gefährlich es für ihn wird. Er muss mit seinem Tod rechnen, mit dem Kreuz. Er weiß auch, dass seine Botschaft vom Reich Gottes dann gescheitert ist und alle spotten: Wo ist denn der Gott, der die Armen aus dem Schmutz zieht und die Trauernden tröstet? Hat er bei Jesus, bei dem eigenen Sohn weggeguckt? „Anderen hat er geholfen, aber sich selbst kann er nicht helfen,“ werden die Zuschauer auf Golgota spotten. Jesus aber spricht davon, dass gerade diese Stunde am Kreuz das Gericht in die Welt trägt und etwas ganz Neues einläutet: Die Liebe zieht alles an sich. Die Liebe, die so ohnmächtig scheint! Der Gefesselte, der Festgenagelte entlarvt den ungerechten und grausamen Zustand der Welt – und erlöst, befreit, heilt und verändert. Weshalb wir ja Ostern feiern als das Fest mit dem größten Gewicht.

Jetzt ist meine Seele erschüttert – was soll ich sagen? Und was sagen wir? Wir sind getauft, Jesus hat uns in der Taufe „an sich gezogen“. Wir sind sein Volk, seine „companeros“, seine Gefährten. In Christus gibt es keine Gleichgültigkeit gegenüber dem Nächsten, auch wenn der 6000 km entfernt wohnt. Keine Gleichgültigkeit, sondern „compassion“, wie man heute gerne sagt, auf Englisch, weil die entsprechenden deutschen Worte so verbraucht und altmodisch geworden sind: Mitleid, Barmherzigkeit. Compassion, das bedeutet große Aufmerksamkeit für die Leiden der Menschen. Das ist gar nicht so einfach! In uns steckt auch die Abwehr: Ich habe schon genug um die Ohren! Was geht‘ s mich überhaupt an? Im Gleichnis vom barmherzigen Samariter heißt es bekanntlich über den Priester und über den Tempeldiener: „Er sah ihn, den Verletzten, und ging vorüber.“ So einfach kommen wir als Christen nicht davon. Leben in der Spur Christi heißt immer auch: Leiden anderer mittragen und mindern – so gut wir das können. Mit offenen Augen hinschauen – und nicht verdrängen. Oder noch besser: „Mit den Augen des anderen sehen“, einmal in seine Haut schlüpfen, es zumindest versuchen.

Vielleicht ist die weltweite Kirche aus Brüdern und Schwestern ein Teil unserer inneren Heimat. Viele von ihnen leiden. Vor allem an Armut und Verelendung. Wenn ein Teil des Leibes leidet, sagt Paulus im Blick auf die Kirche, dann leiden alle Glieder des Leibes mit. Auf meinen Reisen in Afrika und Lateinamerika habe ich immer wieder gespürt, dass für die dortigen Christen das Wort „Brüder und Schwestern“ keine Phrase ist, sondern Wirklichkeit. So können sich die Christen der verschiedenen Länder und Kulturen gegenseitig beschenken. Wir Christen im alten, müden, glaubensfernen Europa brauchen Zeichen des Mutes, der Glaubens- und Lebensfreude und entdecken sie bei den Christen des Südens. Unser Papst stammt ja aus dieser anderen Welt und macht das auch sehr deutlich mit seiner unkomplizierten und menschennahen Art. Und wir in Deutschland können als unsere Gaben anbieten: unser Gebet, unsere materielle Großzügigkeit und Spendenfreude, und unsere Erfahrungen in vielen Bereichen des Wissens. So kann die große Aktion MISEREOR ein Zeichen der Hoffnung sein für die riesigen Massen, die auf der Schattenseite der Welt leben müssen. Sie kann e ine Stimme sein für mehr Gerechtigkeit, für eine bessere Politik, die die Menschenrechte achtet, auch für einen anderen, nachhaltigen, schonenden Lebensstil. Mit einer solchen Stimme spricht Gott, spricht Jesus Christus in die Welt von heute hinein.