Aussatz: Dreißig Meter vom Leib

Predigt am 11.02.20243

Der heilige Franz von Assisi – als junger Mann – ist feinsinnig, sensibel, ästhetisch, ein Genießer! Er legt Wert auf elegante Kleidung, auf gutes Essen, auf interessante Freunde. Eines Tages hört er Gottes Stimme in sich: „Zieh die Bitterkeit der Süße vor, wenn du mich kennenlernen willst!“ Bald darauf hört er einen dumpfen Ton: eine Holzklapper. Aussätzige! Die gab es auch im Mittelalter, überall in Europa. Sie trugen damals so eine Klapper, um die Leute zu warnen: Haltet Abstand! Bleibt uns dreißig Meter vom Leib! Steckt euch nicht an! In Franziskus bäumt sich alles auf – nein, nur das nicht! –, aber dann springt er vom Pferd und geht auf den Aussätzigen zu. Es heißt, dass er seine Hände ergriff und sie küsste. Und mit einem Mal kommt eine unbeschreibliche Freude in das Herz des jungen Mannes. Nun hat er alles hinter sich. Nun wird ihm alles möglich. Keine Angst wird ihn mehr bremsen, keine Scheu, kein Ekel.

Das, liebe Christen, ist ein Beitrag zum Thema „Berührungsängste“ im wörtlichsten Sinn. Berührungsängste: davon ist heute viel die Rede. Wie wichtig war der Abstand zueinander in Coronazeiten! Aber auch alles, was fremd ist, macht erst einmal Angst: fremde Menschen. Flüchtlinge und Asylanten. Der Islam. Fremde Völker, Sprachen und Lebensweisen. Viele machen einen Bogen drum herum.

Der Aussätzige ist nur wie die Spitze eines Eisbergs. Dem möchte bestimmt keiner zu nahe treten, mit seinem Ausschlag und den Geschwüren, mit der Ansteckungsgefahr! Doch Jesus berührt im Evangelium einen Aussätzigen, geht ganz nah an ihn heran. Franz von Assisi, der Jesus nachfolgen will, tut es ihm nach. Er wollte wirklich „Nachfolger Christi“ sein: da, wo keiner hinging, zu den „ausgesetzten“ Menschen, ging er hin und fand dort Christus.

Das Mittelalter, die Zeit des Franziskus, baute prächtige Dome. In der Schönheit und Pracht wollte man Gott finden. Und das ist ja auch nicht falsch. Aber es gibt auch den anderen Weg, den Franz beschritt, und er scheint noch näher zu sein am Geist Jesu Christi. Da duftet es nicht nach Weihrauch und Weihnachten, da sind eher Lumpen zu sehen als Festtagskleider. „Hirten müssen nach der Herde riechen“, sagt unser Papst. Christus im Lärm und Gewimmel eines Slums. Christus bei uns in einem Obdachlosenheim, einem Jugendzentrum, einem Hospiz, einer Sozialwohnung mit vielen Kindern. Christus in einem Flüchtlingsheim, Christus in einem AIDS-Kranken oder einem Aussätzigen.

Gott im Müll. Kann man ihn da wirklich finden? Ist das soziale Romantik? Schönreden des Elends? Oder ist das Wahrheit? Ist das christlich? Ich muss für mich bekennen: Den „lebendigen Christus“ entdecke ich eher „am Rand der Welt“, entdeckte ich eher auf Reisen in Afrika oder Lateinamerika unter den Armen als im Glanz und Gloria schöner Kirchen. Ich denke an die Krippe. Ich denke an das Kreuz. Das Kreuz von Golgota stand damals draußen vor der Stadt Jerusalem, auf einer Art Müllkippe, wo die Wölfe heulten. Das war kein feierlicher, angenehmer Ort, wo man meditieren möchte! Und zwischen dieser Krippe am Anfang und diesem Kreuz am Ende sehe ich den Mann Jesus – er ist ohne Berührungsängste z.B. im Gespräch mit der Ehebrecherin, die die Schriftgelehrten am liebsten steinigen würden – das war damals so üblich. Ich sehe Jesus im Gespräch mit der Samariterin am Brunnen, der ein frommer Jude sonst aus dem Weg ging. Das war auch so üblich. Das Übliche ist für Jesus aber „kein Evangelium“. Es bindet ihn nicht. Es interessiert ihn kaum. Er interessiert sich – für die Menschen! Auch für einen Aussätzigen. Auch der sollte vom Evangeli-um, von Gottes Liebe berührt werden. Berührt, angefasst, ganz wörtlich! So gehen zwei aufeinander zu: der Aussätzige auf Jesus und Jesus auf den Kranken. Er bricht dabei so manches Tabu und bringt die Frommen durcheinander. Er verstört auch uns – bis heute. Die Bibel sieht das so: Jesus stieg herab aus der göttlichen Fülle und lernte so die Schwachstellen, die Niederungen und die Armut kennen, die Wunden, die Narben. Er ist ein Mensch unter Menschen und trägt die Wunden am eigenen Leib. Und darum ist er so glaubwürdig! Er kennt das Leid, er weiß, wo es drückt und weh tut. Und darum können wir in unserem Leid zu ihm gehen und uns halten lassen. Er versteht uns.

Liebe Christen, schauen wir noch einmal auf den Aussätzigen. Wie hat man sie damals rausgeschmissen, die Aussätzigen! Aus den Städten, aus der Zivilisation hat man sie verjagt – aus Angst vor Ansteckung. In der Wildnis, in Höhlen mussten sie in Israel und anderswo ihr Leben fristen, weit entfernt und isoliert von der „normalen Welt“. Wie schnell passiert auch heute solche Ausgrenzung! Wie meilenweit von uns leben oft Obdachlose, Ausländer, Behinderte, alle, die die heile Welt stören und nicht ins schöne Bild passen. Aber nicht nur Minderheiten werden ausgegrenzt – nein, wir neigen dazu, auch Teile unseres eigenen Inneren auszugrenzen und abzuspalten. Wir verdrängen und tabuisieren oft, was wir nicht wahrhaben wollen, was wir nicht zulassen wollen. Zum Beispiel das Älterwerden und die Vergänglichkeit oder Sexuelles oder eine alte Schuld oder tiefsitzende Angst. All das „kommt dann in den Keller“, wird nicht zugelassen und „spukt“ dann irgendwie in uns herum – so wie die Aussätzigen damals herumspukten mit ihren Holzklappern. Jeder weiß: Das tut nicht gut. Daraus kann nichts Gutes werden. „Wenn du willst, kannst du mich rein machen“, ruft der Aussätzige hoffnungsvoll. Und Jesus antwortet: „Ich will es – werde rein!“ Ich will es. Es ist sein Wille, es ist Gottes Wille, dass jeder Mensch in Freiheit und Würde leben kann. Aber er legt es auch in unsere Hände, dass das geschehen kann. „Geht auf sie zu“, sagt er zu uns, „reißt die Mauern und Zäune in euren Köpfen und Vorstellungen ein! Zweifelt niemals, in keinem Fall, an der Würde des Menschen. Jeder ist Kind Gottes!“ Und so wird ein Aussätziger, einer, der immer im Abseits war, von Jesus berührt und hineingenommen ins Leben.

Besseres kann einem nicht passieren.