Weihnachtspredigt 2023



In meiner Kindheit war das „Warten auf das Christkind“ richtig aufregend! Der Heilige Abend war gekommen, das Wohnzimmer zugeschlossen. Man hörte ein Rascheln und Flüstern, und die Spannung stieg. Es dauerte und dauerte. Aber schließlich öffnete sich die Tür, der geschmückte Baum trat ins Blickfeld, und die Weihnachtsfeier samt Bescherung konnte beginnen. Das Warten hatte sich gelohnt.

Heute warten wir anders. Etwa auf Bahnhöfen. Ich wollte mehrfach Leute in Hagen oder Dortmund abholen, die mit dem Zug kamen, und habe dann da stundenlang waren müssen, in der Kälte stehend. Wer Geduld lernen will, kann das heutzutage am besten am Bahnhof üben!
Irgendwie ist der Bahnhof ein „adventlicher Ort“. Ich stehe herum, schaue ständig auf die Uhr und erwarte eine Ankunft, aber die lässt auf sich warten. Immer wieder die Durchsage: Der Zug hat eine weitere Verspätung.

Vor bald hundert Jahren hat der Dichter Erich Kästner einen kleinen unscheinbaren Text geschrieben unter dem Titel Ein Bahnhofsvierzeiler:

Jeden Abend stand er an der Sperre,
ein armer, alter, gebeugter Mann.
Er hoffte, dass einmal Gott ankäme.
Es kamen immer nur Menschen an.


Also auch hier ein Bahnhof. Auch hier das Warten auf eine Ankunft. Er hoffte, dass einmal Gott ankäme. Warten auf Gott?

Ja, ich glaube, viele warten auf ihn, haben Sehnsucht nach ihm. Auch in gottlosen Zeiten! Und es sind nicht nur die Religiösen, die „Frommen“, die da warten und ihn in den Kirchen feiern. Es sind auch die ganz normalen Leute, der vielbeschworene „Mann auf der Straße“, der in den Kirchen nicht mehr zuhause ist. Sie alle – egal, woher sie kommen – warten auf Gott, aber ohne ihn so zu nennen. Gott, „der alte Mann im Himmel“, wie er ihnen beigebracht wurde, sagt ihnen nichts mehr. Der ist sozusagen tot. Aber sie suchen unter anderen Namen und Vorstellungen. Sie reden vielleicht vom Glück, vom Halt oder tragenden Grund, vom sinnvollen und erfüllten Leben, von Ganzheit, vom Licht am Ende des Tunnels, ja von Erlösung. Von einer letzten Geborgenheit. Oder, wie ein Kind in einer Kindergeschichte sagt: Es muss doch mehr als alles geben! Ihre Hoffnung ist unbestimmter, unsicherer. Nicht mehr das selbstgewisse und vollmundige Bekenntnis, sondern ein zögerndes und tastendes Suchen und Fragen.

Der „arme, alte, gebeugte Mann“ im Gedicht möchte wohl einen Grund haben, der ihn wieder aufrichten kann. Er hoffte, dass einmal Gott ankäme. Er hoffte. Glauben in der heutigen Welt ist oft eher ein Hoffen. Aber dann die Enttäuschung: Gott steigt nicht aus dem Zug. Er verspätet sich bis in alle Ewigkeit. Die Heilung – das Aufrichten – passiert nicht. Stattdessen: Es kamen immer nur Menschen an.

Immer nur Menschen. Warum „immer nur“? Nur Menschen, bloß Menschen – ist das so wenig? Kann es sein, dass der erhoffte und erwartete Gott doch „aus dem Zug aussteigt“, indem er in Menschen ankommt? So sagt es Dietrich Bonhoeffer: „Nicht die unendlichen, unerreichbaren Aufgaben, sondern der jeweils erreichbare Nächste ist Gott in Menschengestalt.“ Kann es sein, dass Gott sich in Menschen, ja in einem neugeborenen Kind versteckt, verbirgt? Dann wären wir schon im Herzen von Weihnachten.

Die Kirche feiert das mit großer Freude! Der große, alles umfassende Gott wird ein Mensch. Er kommt zur Welt in einem armen Kind, das mit seinen Eltern unterwegs ist und bald auf der Flucht. Gott wird Mensch. Man muss sich das mal vorstellen. Wer es fassen kann, der fasse es! Und staune! Gott und Mensch – das sind doch ganz verschiedene Ebenen! Und die finden zueinander! Nicht weil der Mensch wie Gott sein will (das geht nie gut!), sondern weil Gott Mensch werden will (und dieser Mensch, Jesus Christus, hat uns sehr gut getan).

So dürfen wir ein Auge haben für die kleinen Spuren Gottes in der Welt. Und ein Ohr für das leise Wort, das in unserem Herzen und Gewissen klingt. Wir dürfen Gott ahnen im Lächeln eines Kindes oder im Gesicht eines Notleidenden. Und wir dürfen hoffen, dass Jesus zu Weihnachten vor allem in unserem Herzen neu geboren werden möchte.

Jetzt kommt zum Gedicht noch ein Bild dazu. Ein Holzbildhauer aus dem badischen Ettlingen, Rudi Bannwarth, hat es 2019 geschaffen, aber ich fühle mich an mein heimatliches Ruhrgebiet erinnert. Auch hier ein Bahnhof, ein junges Paar mit Baby steht am Ausgang. Der Bahnsteig ist noch zu sehen, die Informationstafeln, der blaue Zug. Vielleicht ist das Baby dort in einem Zugabteil geboren worden - unterwegs. Das Paar scheint gerade angekommen. Vor ihm liegen erneut Gleise, wohl von der Straßenbahn. Die drei brauchen ja jetzt eine Unterkunft. Das Kind wird hineingetragen in unseren stressigen Alltag. Hilflos, heimatlos.

Skurril: Ochs und Esel gucken aus einem Schalter heraus, mit dem alten Bergmannsgruß „Glück auf“. Daneben rechts noch ein gesprühter Spruch, der ins Ruhrrevier passt: Ohne Jesus ist Schicht im Schacht! Aber wer liest und beachtet das schon? Der telefonierende Geschäftsmann davor jedenfalls nicht, er verdeckt die Schrift, man kann sie kaum lesen.

Drei weitere Personen umgeben wie Eckpunkte eines Dreiecks das junge Paar: links unten ein Mädchen mit einem weißen Lamm, rechts eine alte Frau mit Rollator, oben auf dem Dach ein geflügelter Mann, ein Engel. Vom Himmel hoch – da komm ich her. Wer wird seine Botschaft hören – von so hoch da oben? Werden nicht alle diese Ankunft verpassen? Wer wird auf das Kind zugehen, anstatt achtlos an ihm vorbei zu schlendern? Eine kleine Brücke gibt es aber im Bild: die rot-rosa Pullover oder Jacken der drei Frauen. Die junge Mutter, das Mädchen mit dem Lamm und die alte Frau haben etwas gemeinsam. Das Mädchen plus Lamm deutet vielleicht auf die Hirten hin, die sich die Botschaft sagen ließen, und die gebeugte alte Frau mit dem Rollator könnte stehen für die biblische greise Hanna, die schon so lange im Tempel auf den Erlöser wartete, auf den Retter der Welt. Also: Es gibt Menschen, die offene Ohren haben und ein offenes Herz.

Die Botschaft muss auch an diesem flüchtigen Durchgangsort, dem Bahnhof, nicht ungehört verhallen. Immer noch gibt es Menschen mit sehnsüchtigem Herzen. Immer noch machen Menschen die Erfahrung: „Ohne Jesus ist Schicht im Schacht!“ Immer noch sind viele da, die große Hoffnungen in sich tragen – nach Frieden in dieser Zeit, nach Erlösung. Und für die Weihnachten viel mehr ist als Glühweintrinken und Geschenke auspacken. Immer noch lässt sich sagen: Mach‘s wie Gott: Werde Mensch.