Weihnachtsgruß




Bahnhöfe sind zurzeit nicht gerade meine Lieblingsplätze. Ich wollte mehrfach Leute in Hagen abholen, die mit dem Zug kamen, und habe dann stundenlang warten müssen. Wer Geduld lernen will, kann das heutzutage am besten am Bahnhof üben: der Bahnhof ist ein adventlicher Ort. Ich stehe herum und erwarte eine Ankunft, und die lässt auf sich warten. Immer wieder die Durchsage: Der Zug hat eine weitere Verspätung.

Vor bald hundert Jahren hat der Dichter Erich Kästner einen kleinen unscheinbaren Text geschrieben unter dem Titel Ein Bahnhofsvierzeiler:

Jeden Abend stand er an der Sperre,
ein armer, alter, gebeugter Mann.
Er hoffte, dass einmal Gott ankäme.
Es kamen immer nur Menschen an.


Also wieder ein Bahnhof. Also wieder das Warten auf eine Ankunft. Auf Gott? Ja, viele warten auf ihn, haben Sehnsucht nach ihm. Sie gebrauchen dafür aber meistens nicht mehr das Wort „Gott“, sondern reden vom Glück, vom Halt oder tragenden Grund, vom sinnvollen Leben, von einer letzten Geborgenheit. Ihre Hoffnung ist unbestimmter, unsicherer. Der „arme, alte, gebeugte Mann“ des Gedichts möchte wohl einen Grund haben, der ihn wieder aufrichten kann. Er möchte wieder aufrecht gehen können. Aber dann die Enttäuschung: Gott steigt nicht aus dem Zug. Er verspätet sich bis in alle Ewigkeit. Die Heilung passiert nicht. Stattdessen: Es kamen immer nur Menschen an.

Immer nur Menschen. Warum „immer nur“? Nur Menschen, bloß Menschen – ist das so wenig? Kann es sein, dass der erhoffte und erwartete Gott doch „aus dem Zug aussteigt“, indem er in Menschen ankommt? Sich in Menschen, ja in einem neugeborenen Kind versteckt, verbirgt? Dann wären wir schon im Herzen von Weihnachten.

Die Kirche feiert das mit großer Freude! Der große alles umfassende Gott wird ein Mensch. Er kommt zur Welt in einem armen Kind, das mit seinen Eltern unterwegs ist und bald auf der Flucht. Gott wird Mensch. Man muss sich das mal vorstellen. Wer es fassen kann, der fasse es! Und staune! Gott und Mensch – das sind doch ganz verschiedene Ebenen! Und die finden zueinander! Nicht weil der Mensch wie Gott sein will (das geht nie gut!), sondern weil Gott Mensch werden will (und dieser Mensch – Jesus Christus – hat uns sehr gut getan).

Jetzt zum Gedicht noch ein Bild dazu. Ein Holzbildhauer aus dem badischen Ettlingen, Rudi Bannwarth, hat es 2019 geschaffen, aber ich fühle mich an mein heimatliches Ruhrgebiet erinnert. Auch hier ein Bahnhof, ein junges Paar mit Baby steht am Ausgang. Der Bahnsteig ist noch zu sehen, die Informationstafeln, der blaue Zug. Das Paar scheint gerade angekommen. Vor ihm liegen erneut Gleise, wohl von der Straßenbahn. Die drei müssen ja jetzt eine Unterkunft suchen. Skurril: Ochs und Esel gucken aus einem Schalter heraus, mit dem alten Bergmannsgruß Glück auf. Daneben rechts noch ein gesprühter Spruch, der ins Ruhrrevier passt: Ohne Jesus ist Schicht im Schacht! Aber wer liest und beachtet das schon? Der telefonierende Geschäftsmann davor jedenfalls nicht, er verdeckt die Schrift.

Drei weitere Personen umgeben wie Eckpunkte eines Dreiecks das junge Paar: links unten ein Mädchen mit einem weißen Lamm, rechts eine alte Frau mit Rollator, oben auf dem Dach ein geflügelter Mann, ein Engel. Wer wird seine Botschaft hören? Werden nicht alle diese Ankunft verpassen? Wer wird auf das Kind zugehen, anstatt achtlos an ihm vorbeizugehen? Eine kleine Brücke gibt es im Bild: die rot-rosa Pullover oder Jacken der drei Frauen. Die junge Mutter, das Mädchen mit dem Lamm und die alte Frau haben etwas gemeinsam. Das Mädchen plus Lamm deutet vielleicht auf die Hirten hin, die sich die Botschaft sagen ließen, und die gebeugte Rollatorfahrerin könnte stehen für die biblische greise Hanna, die schon so lange im Tempel auf den Erlöser wartete, auf den Retter der Welt.

Also, die Botschaft muss auch an diesem flüchtigsten aller Orte, dem Bahnhof, nicht ungehört verhallen. Immer noch gibt es Menschen mit sehnsüchtigem Herzen. Immer noch machen Menschen die Erfahrung: „Ohne Jesus ist Schicht im Schacht!“ Immer noch sind viele da, für die Weihnachten mehr ist als Glühweintrinken und Geschenke auspacken. Immer noch lässt sich sagen: Mach‘ s wie Gott: Werde Mensch.