Dr. Bernhard Schneider † – 89

Predigt am 14.12.2023


Bernhard Schneider, der Schlesier und Bauernsohn. Der Jurist. Der Gläubige. Der Familienmensch. Der Stadt- und Oberkreisdirektor. Der Natur- und Wander- und Menschenfreund. Der an Demenz Erkrankte. Mit diesen Stichworten kann man das erfüllte Leben unseres Verstorbenen ein wenig umreißen.

Der schlesische Bauernsohn. Ein Bauernhof in einem schlesischen Dorf, Altpaschkau. Die Familie mit drei Söhnen: Jahrzehnte später, so etwa in den 90er Jahren, besuchte er das inzwischen polnische Dorf und zeigte mir Fotos vom Hof – damals und heute. Er war sehr bewegt dabei. Heimat war für ihn ein Herzenswort. Heimat: der vertraute Ort in der Welt, da, wo ich hingehöre. Später, im Sauerland, inspirierte und leitete er die Heimattage und holte sie aus der rein folkloristischen Ecke heraus. Heimat – das war existentiell, das war der Boden, auf dem er stand. Die Lateiner haben für diesen Boden das schöne Wort humus und nennen diese Bodenhaftung humilis. Das wird meist übersetzt mit „demütig“. Aber es ist etwas Anderes. „Humilis“ ist der Mensch, der die Wirklichkeit, das Gegebene erkennt und anerkennt, der „auf dem Boden“ und „auf dem Teppich“ bleibt und nicht in Illusionen schwelgt. Bernhard Schneider war sehr humilis, und er war darum sehr human (was ja denselben Wortstamm hat).

Diese Herkunft hat ihn für immer geprägt. Legendär war seine Naturverbundenheit. Vor über 20 Jahren haben Elisabeth, Bernhard und ich einmal Ferien auf dem Lande gemacht, in Piemont, Norditalien. Die beiden kannten da jede Vogelstimme, Bernhard konnte sie auch imitieren. Und jedes Kräut- und Blümelein wurde mit Namen benannt. Ich als Großstadtkind konnte da nur staunen.

Und dann ging ein Riss durch die recht heile Bauernwelt. Das Kriegsende 1945, die Vertreibung. Der Verlust der Heimat. Entwurzelung, Entfremdung, Gewalt und Ausgeliefertsein. In diesem schrecklichen Jahr 1945 lernt Bernhard die Todesangst kennen; er fühlt sich „vogelfrei“. Das Leben ist nicht mehr sicher. Auch das Leben, anschließend, im Raum Bremen, u.a. in einem Internat, ist hart und bitter. Die Schneiders sind dort bettelarm, haben nichts mehr. Der Vater sagt: „Lernt ordentlich, das können sie Euch nicht nehmen!“ Man gehört zu den Fremden – mit dem eigenen Akzent, mit der anderen Konfession –, zu den Unerwünschten. Wie so viele Flüchtlinge heute. Und Bernhard steckt gerade in der frühen Jugend, er muss auf diese schmerzlichen Erfahrungen reagieren.

Das tut er mit Disziplin, mit Zielstrebigkeit und Ehrgeiz. Der verunsicherte und schüchterne Junge sucht und findet Halt. Er braucht eine Struktur, eine klare Ordnung, einen Rahmen. Den findet er im Studium des Rechts, in der Ehe und Familie und in der starken Geborgenheit des christlichen Glaubens.

Vor dem Studium steht das Abitur. Er traut es sich nicht zu. Aber es gibt einige Lehrer, die ihn ermutigen, ihm die Ängste nehmen, von denen er Wärme und Zuwendung erfährt – bei ihm eiserne Rationen fürs ganze Leben.

Welches Studienfach? Nach der erlebten Rechtlosigkeit also Jura, das Recht. Die Klarheit und Logik des Rechts und die Hoffnung auf einen Rechtsstaat, in dem nicht das Recht des Stärkeren, sondern das Recht der Gerechtigkeit regiert. Das Studium erst in Göttingen und dann in Münster führt ihn auch in seine zukünftige Wahlheimat, ins Münsterland.

Parallel zur Liebe zum Recht steht die Anhänglichkeit an den katholischen Glauben. Das ist für ihn der große umfassende Halt. In den schlichten Formen des Christseins drückt er ihn aus: Durch die Mitfeier der Messe, im persönlichen Beten, auch in den Ritualen des Tisch- und Familiengebets, in Liedern und Gesängen. Als wir die schon erwähnte Reise nach Piemont machten, bekreuzigen sich vor der Abfahrt Bernhard und Elisabeth und sprechen ein Reisegebet. Da war nichts Frömmelndes oder Schwärmerisches dran, sondern eine nüchterne, selbstverständliche, aus dem Herzen kommende klare Haltung tritt zutage, mit der er leben und später auch sterben konnte.

Auf dem Klavier im Haus in der Gronenburg ist ein Foto zu sehen: der polnische Papst Johannes Paul II 1987 bei seinem Besuch im Ruhrbistum Essen, hinter ihm im Bild die Vertreter des Märkischen Kreises, der Landrat W. Hostert und B. Schneider. Sie strahlen um die Wette. Wann hat man das schon: einem Papst den Rücken zu stärken.

Wohl noch viel stärker als seine Liebe zum Recht, zum Glauben und zur Kirche ist die Liebe zu seiner Frau Elisabeth. Beide lernen sich auf einem Studentenball kennen. 1964 heiraten sie kirchlich. Im nächsten Jahr hätten sie ihre Diamantene Hochzeit feiern können. Die beiden sind wirklich ein Team, sie ergänzen sich und (unter)stützen einander. Und zeitlebens, bis zu seinem Tod, ist Bernhard seiner Frau überaus dankbar für ihre Fürsorge und Hilfe und sagt ihr das auch: wie froh er sei, sie zur Frau zu haben.

In dieser Liebe wachsen die drei Kinder auf: Anne, Eva und Michael. Sie erleben, wie sehr der Vater sie fordert und fördert, wie er ihnen vielfältige Möglichkeiten eröffnet und immer zu ihnen steht. Anne schreibt u.a.: „Deine zurückhaltende Freundlichkeit, mit der du jedem begegnet bist, Deine Fairness, Deine Bescheidenheit und Großzügigkeit, Deine Präsenz, die nie aufdringlich war, all das hat Spuren in uns hinterlassen, in unseren Genen, in unserer Sicht auf die Welt, in den Werten, die du uns mitgegeben hast.“

Natürlich ist hier auch von der beruflichen Karriere zu sprechen, für die er hart gea-beitet hat. Dass er mit Mitte 30 Stadtdirektor von Greven und danach,1986, Oberkreisdirektor des Märkischen Kreises in Lüdenscheid wird, hat ihn mit Stolz und Zufriedenheit erfüllt. Er war ein Inbegriff des Zuverlässigen, des Korrekten, des Verantwortungsbewussten. Oberkreisdirektor – das war schon was! Das Amt hat mich als jungen Pfarrer tief beeindruckt! Aber hinter diesem großen Titel lebt ein Mensch auf Augenhöhe, einer, der auf dem Boden bleibt. Ich weiß noch, wie ich 1993 mit einem jungen Afrikaner, der abgeschoben werden sollte, der noch auf einige wichtige Papiere wartete und dem ich in meiner Wohnung Kirchenasyl gab, im Winter um eine Talsperre spazieren ging und unterwegs ausgerechnet dem Oberkreisdirektor und seiner Frau in die Arme lief - dem, dessen Ausländeramt die Abschiebung veranlasst hatte. Wir grüßten uns freundlich, der Oberkreisdirektor ahnte einiges, der Afrikaner bekam Wochen später seine Papiere und wurde sofort anerkannt. Bernhard Schneider hatte die Größe, mir zu sagen, dass er bei aller Problematik des Kirchenasyls in diesem Fall doch von einem sinnvollen Verhalten sprechen würde, das dem Asylanten Gerechtigkeit bescherte.

Von vielem könnte noch die Rede sein – von seiner Begabung für die Musik und für den Sport: Tennis, wandern, Rad fahren, schwimmen, Gymnastik. Er organisiert Radtouren und Wanderungen – als Wanderwart eines Kreises, der jahrzehntelang bestand, führt er ein strenges Regiment! Als Pensionär nimmt er am Seniorenstudium der Uni Münster teil und an den Veranstaltungen seines Rotary-Clubs.

Das hohe Alter ist für ihn nicht leicht. Mit 85 Jahren zeigt er deutliche Anzeichen fortschreitender Demenz. Er kommt 2019 ins Altenzentrum St. Augustinus Nordwalde. Dort wird er ausgezeichnet gepflegt. Einer der Betreuer versteht es bestens, die verbliebenen Funken des Lebens zum Leuchten zu bringen. Auch Elisabeth und den Kindern gelingt es immer wieder, mit ihm zu kommunizieren und Altvertrautes wachzurufen, etwa durch gemeinsames Singen und Beten. Sie spüren – trotz aller Einschrän-kungen durch die Krankheit – seine tiefe Dankbarkeit für seinen Weg heraus und sein Ja zum Leben. Sie halten ihn und lassen ihn los. Am 4. Dezember geht er ein in die Ewigkeit.

Bernhard hatte sich unter seinen persönlichen Aufzeichnungen ein Zitat aus Psalm 18 notiert, das auf der Todesanzeige zu finden ist: „Du führst mich hinaus in die Weite – Du machst meine Finsternis hell.“ Genau das ist wohl in seinem Leben passiert: Die Ängste und Engführungen seiner jungen Jahre mündeten in die Weite, in ein weithin glückliches erfülltes Leben. Und jetzt – in seinem Tod – wartet eine neue, ewige Weite auf ihn: in dem Gott, mit dem er immer verbunden war.