O Heiland, reiß den Himmel auf

Predigt am 10.12.2023


Geht es Ihnen auch so? Wenn ich Advents- oder Weihnachtslieder singen kann, dann spüre ich am deutlichsten: Jetzt ist Advent. Jetzt ist Weihnachten. Die Lieder „transportieren“ in ihren Texten und in ihren Melodien den Advent, bringen ihn herüber.

Zum Beispiel:

O Heiland; reiß den Himmel auf,
herab, herab vom Himmel lauf.
Reiß ab vom Himmel Tor und Tür,
reiß ab, wo Schloss und Riegel für.

Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt,
darauf sie all ihr Hoffnung stellt?
O komm, ach komm vom höchsten Saal,
komm, tröst uns hier im Jammertal!

O klare Sonn, du schöner Stern,
dich wollten wir anschauen gern.
O Sonn, geh auf, ohn deinen Schein
in Finsternis wir alle sein.
(GL 231)

Dieses Lied stammt von dem Jesuitenpater Friedrich von Spee. Er hat es geschrieben vor 400 Jahren, 1622, im Dreißigjährigen Krieg. Das war eine schlimme, höchst grausame Zeit. Die Hälfte der deutschen Bevölkerung stirbt, Hungersnöte und Seuchen wüten, Mord und Totschlag sind an der Tagesordnung. So ähnlich wie Gaza oder die Ukraine heute! Da ist tatsächlich der Horizont verfinstert. Da wirkt der Himmel, als hinge ein Schloss und ein Riegel davor – verschlossen, verriegelt, versperrt. „O Heiland; reiß die Himmel auf!"" Das ist eigentlich kein Lied, das ist als ein Schrei zu hören! Ein Schrei der Menschheit, die nicht weiterweiß. Sie möchte in Gott den Trost der ganzen Welt finden, aber läuft vor verschlossene Türen. Friedrich von Spee schreit mit: „Komm! Zeig dich!“

Spee ist bekannt geworden als ein Anwalt der Frauen, die als Sündenböcke für das Elend dienen müssen. Man nannte sie Hexen. Sie wurden verfolgt, gefoltert und verbrannt. Der tapfere Pater dichtet und singt nicht nur; er träumt sich nicht aus der Welt heraus. Er sieht die Not der bedrängten und verfolgten Menschen mit ganz wachen, offenen Augen. Und er hilft, wie er nur kann. Dadurch bringt er sich selber in Gefahr; der „Fürsprecher für die Hexen“ – so sagen damals viele Leute – muss wohl selber mit dem Teufel im Bunde sein! Friedrich von Spee wird vor Gericht gezerrt, aber er hält stand. Er verstummt nicht. Er findet die richtigen Worte, so z.B. unser Adventslied. Und im Schreien und Protestieren und Singen und Fragen („Wo bleibst du?“) findet er sich und dringt durch zu einer neuen Hoffnung. Einer Adventshoffnung.

Könnte das Advent sein: wirklich christlicher Advent heute, 2023, und nicht bloß alljährlicher Kalenderadvent? Mit Friedrich von Spee zu rufen, zu singen: „Komm! Zeig dich!“ Das ist ja der alte Erwartungs-Ruf der ersten Christen und das allerletzte Wort in der Bibel: Maranatha! Komm Herr Jesus. Komm bald!

Lass nicht so lange auf dich warten. Ist unser Advent noch wirkliche Erwartung? Oder nur noch lieb gewordenes Brauchtum mit Glühwein und Bratäpfeln? Erwartung, nicht nur die Erwartung des Festes Weihnachten, das so sicher und automatisch kommt wie das Amen in der Kirche? Nein, größer muss die Erwartung sein! Erwarten wir, dass Gott kommt? „Dein Reich komme,“ beten wir ja immer wieder, in jedem Vaterunser. Meinen wir es ernst? So ernst wie der Pater von Spee, der in seinem leidenschaftlichen Einsatz für die vermeintlichen Hexen und andere Verfolgte etwas vom kommenden Gottesreich aufleuchten lässt?

Unter dem verschlossenen Himmel leuchten dennoch Lichter der Hoffnung. Sie gehen aus von Menschen, die menschenfreundlich und zugleich gottesfreundlich sind. Überall in Städten und Gemeinden gibt es noch viele Hoffnungslichter, viel in Richtung Reich Gottes. Und darum viel vom Advent. Advent – das heißt: Schraub die Erwartungen nicht zu klein! Nicht nur ein friedliches, harmonisches Fest am Ende des Advents! Das ist schon etwas, aber die Erwartung ist viel größer: Gott selber wird erwartet. Der Himmel öffnet sich – in Jesus Christus. Mit Schloss und Riegel ist es dann vorbei! Licht leuchtet hinein ins „Jammertal“. Dafür braucht man offene Augen und ein großes Herz. Dafür braucht man Typen wie diesen Friedrich von Spee, die bei den Opfern dieser Welt sind und die den Mund nicht halten. Die schreien und beten und seufzen: Ach, komm, öffne den verfinsterten Himmel! Und sie sprechen vom Heiland – das ist einer, der das Kaputte und die Kaputten heil macht, ganz macht, aus der Dunkelheit herausholt und ins Licht stellt.

Was können wir heraushören aus dem Lied und dem Liedermacher? Eine ungeheure Sehnsucht. Eine Sehnsucht, die sich noch nicht hat unterkriegen lassen von der Resignation, von der Erwartungslosigkeit. „Unruhig ist unser Herz – und voller Sehnsucht,“ sagt der große Augustinus. „Steig auf einen hohen Berg, Jerusalem, du Botin der Freude. Erhebe deine Stimme, fürchte dich nicht! Siehe: Gott der Herr kommt mit Macht. Wie ein Hirt weidet er seine Herde, auf seinem Arm sammelt er die Lämmer, an seiner Brust trägt er sie.“, sagt Jesaja in der Lesung (Jes 40, 9-11) und kündigt einen Gott an, der väterlich und fast noch mehr: mütterlich auf die Menschen zukommt. Ihm sollen wir – mit unserem sehnsüchtigen Herzen – einen Weg bahnen: „Stimme eines Rufers in der Wüste: Bereitet den Weg des Herrn! Macht gerade seine Straßen!“ (Mk1,2)
Wünschen und erbitten wir uns ein Herz, das unruhig bleibt in der platten Konsumhaltung unserer Tage. Das bereit ist, die „Straßen gerade zu machen“ – mit den „krummen Touren“ aufzuhören. Ein Herz, „das hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit“ für alle. Gerade für die, die arm dran sind – egal, wo.

In diesem Sinne: Gesegneten Advent!