Wenn dein Bruder gegen dich sündigt

Predigt am 10.09.2023


Von Konflikten ist hier die Rede, von Konflikten in der Gemeinde. Und davon, wie sich Jesus den Umgang mit ihnen wünscht. Sagte ich: Konflikte in der Gemeinde? Gibt es so was denn? Treffen sich in einer Gemeinde denn nicht die Gleichgesinnten? „Gemeinde“ – das Wort allein klingt doch nach „konfliktfreier Zone“, ein Ort des Friedens, wo die Streitigkeiten des Alltags zum Glück ganz weit weg sind – oder?!?

Nun, gar so friedlich ist es auch in einer christlichen Gemeinde nicht. Sie ist vielmehr in der Gefahr, sich ihre Konflikte nicht einzugestehen! Das dürfe es in der Kirche doch nicht geben! Und dann kehrt sie alles, was nicht gerade in ihrem Leben glänzt, unter den Teppich. Wir haben das in den letzten Jahren allzu deutlich erlebt. Klar, dass das nicht endlos gutgeht. Unter dem Teppich, da wuchern Konflikte besser als irgendwo sonst, und irgendwann bricht alles mit umso größerer Wucht hervor.

Also: Konflikte sind auch in einer Gemeinde da, und sie dürfen auch in einer Gemeinde da sein: Meinungsverschiedenheiten, Streit, verschiedene Fronten. Sie sind für sich genommen noch kein Drama. Alles kommt aber nun darauf an, wie wir mit ihnen umgehen! Und dafür gibt Jesus uns etwas an die Hand: „Sündigt aber dein Bruder an dir – nebenbei bemerkt: es könnte natürlich auch eine Schwester sein! –, so geh hin und weise ihn unter vier Augen zurecht!“

Das ist doch schon etwas sehr Bemerkenswertes: sag dem Bruder das, was du auf dem Herzen hast, unter vier Augen! Das stellt ihn nicht bloß vor den anderen, das macht ihn nicht nieder. Mache ich dagegen die Kritik gleich öffentlich und erzähle sie überall herum, dann steht beim anderen im Vordergrund die Verletzung, die er spürt. Vielleicht wird sich sein Fehler dann eher noch verfestigen. Verletzungen dieser Art machen aggressiv. Da schlägst du bei nächster Gelegenheit zurück, statt in dich zu gehen. Und damit ist insgesamt nichts gewonnen, sondern vielmehr alles verloren.

Jesus zeigt uns den anderen Weg. Der Andere soll die Möglichkeit haben, die Kritik zu hören, ohne sein Gesicht zu verlieren. Es geht nicht darum, „jemanden in die Pfanne zu hauen“, sondern die Gemeinschaft wiederherzustellen. Mit tollem Ergebnis: Du hast „deinen Bruder zurückgewonnen“! Mein Gegenüber wurde mir ganz neu nahegebracht. Und das alles aus einem Konflikt heraus!

Leider gelingt es nun mal nicht immer, einen Konflikt im Zwiegespräch zu lösen. Darum sagt Jesus, eine oder zwei weitere Personen sollten dann eingeschaltet werden. Auch das ist ja noch ein vertraulicher Rahmen. Einerseits lässt der Kritiker sich nicht so einfach zum Schweigen bringen, andererseits hat er immer noch ein Interesse daran, den Streit nicht an die große Glocke zu hängen. Merken Sie, wie viel Mühe Menschen sich hier machen, um einen Konflikt gut zu lösen? Also: nicht gleich Post vom Anwalt! Nicht gleich: die Mühlen der Justiz! Nicht gleich einen Brief an den Bischof.

Wenn auch das alles nichts hilft, so Jesus, dann trage den Konflikt in die Gemeinde! Das ist sicher eine Ausnahmesituation, wenn es um Persönliches geht. Das ist für uns ja eher Privatsphäre. In den kleinen Gemeinden der Urkirche hieß das: Diese beiden aus unserer Mitte, die da im Clinch liegen, sind uns nicht gleichgültig! Sollte eine Gemeinde nicht Höhen und Tiefen miteinander teilen, statt die Leiden ihrer Mitglieder zu übersehen und zu sagen: Wir sind nicht zuständig?

Jetzt kommt ein harter möglicher Schlusspunkt. Wenn alle Stricke reißen und der Kritisierte, der sogenannte „Sünder“, auch angesichts der versammelten Gemeinde nicht zur Raison kommt, dann kann und muss man ihm sagen: So nicht! Mit dir ist Gemeinschaft nicht mehr vorstellbar! Ich war da einmal schwer beeindruckt, als in der grausamen Diktatur von Pinochet in Chile, vor rund 50 Jahren, der Erzbischof der Hauptstadt die katholischen Generäle, die für Folterungen und schwere Menschenrechtsverletzungen verantwortlich waren, aus der Kirche ausschloss – exkommunizierte – mit den Worten: Das könnt ihr als Christen nicht machen! Das ist das Gegenteil von dem, wie Christen leben sollen! Ihr könnt so nicht mehr in der Kirche sein!

Und nun noch das bekannteste Wort unseres Evangeliums: „Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.“ Ich höre dieses Wort jetzt etwas anders! Bisher hatte ich dabei immer zwei oder drei Menschen vor Augen, die in trauter Harmonie zusammen sind, beten, einander freundlich zugewandt und rundherum zufrieden. Aber jetzt klingt etwas Anderes mit, weil die vorangegangenen Verse ja nach wie vor mitschwingen: da war ja die Rede von Streit, vom Zwiegespräch oder dem in der kleinen Gruppe, um jene Konflikte zum Nutzen für alle Beteiligten zu lösen. Und eine solche Gruppe stelle ich mir jetzt vor: gar nicht unbedingt harmonisch und in Frieden miteinander, wohl aber am anderen und an der Gemeinschaft interessiert. Und mit Christus mittendrin! Das Bild wird dadurch ernster, aber zugleich noch intensiver. Es hat das Harmlose verloren, das es in meinem Klischee bisher hatte, und an Tiefe gewonnen!

Und so wird es zum Bild für die Kirche überhaupt: Jesus verheißt ihr keine sorgenfreie Idylle; sie war und ist keine problem- und konfliktfreie Zone. Wahrlich nicht. Aber gerade so, wie sie ist, kann sie Kirche Christi sein – wenn die Christen denn bereit sind, so miteinander umzugehen, wie Jesus ihnen und uns hier nahelegt.

Konfliktbewältigung ist sicher nicht die größte Stärke der Kirche. Aber mit diesen Worten Jesu können wir weiterkommen. Und alle können sich im Gespräch neu sehen und verändern und deutlicher zu Christen werden.