Caravaggio malt Matthäus

Predigt am 11.06.2023


„In jener Zeit sah Jesus einen Mann namens Matthäus am Zoll sitzen und sagte zu ihm: „Folge mir nach!“ Und Matthäus stand auf und folgte ihm nach.“
Mt 9,9


Schauen Sie einmal in Ruhe das Bild an.

Es hängt in Rom, in der Franzosenkirche St. Louis, und ist eindeutig mein Lieblingsbild in der Ewigen Stadt. Immer, wenn ich Gruppen durch Rom führte, haben wir wohl eine halbe Stunde vor dem Bild verbracht. Ich spiele jetzt etwas den Reiseleiter weiter, der zunächst von dem Maler Caravaggio erzählt. Der malte in der Barockzeit, so um 1600 herum, für den Papst und die Kardinäle, war aber nicht gerade hoffähig. Er hatte ein heftiges Temperament, konnte richtig ausrasten und tötete im Duell den Gegner, musste fliehen und starb jung im Exil. Immer wieder malte er Szenen aus dem Glauben, aber ganz anders als die anderen. Sie sind auf ungewohnte Weise „geerdet“. Maria ist z.B. eine junge Frau aus den römischen Vorstädten. Keine Heilige „mit verdrehten Augen“! Bei einem alten, auf den Knien liegenden Pilgerpaar, das wochenlang unterwegs war zu einem Wallfahrtsort, erkennt man selbst die schwarzen Ränder unter den Fingernägeln, auch die Fußsohlen, die sie dem Betrachter entgegenstrecken, sind schmutzig – wo hätten sie sich auch waschen können? Caravaggios Menschen sind wirkliche Menschen, und in ihrer ganz alltäglichen Wirklichkeit – auf schmutzigen Füßen – begegnet ihnen das Heil, begegnet ihnen Christus. Heiligenscheine findet man in seinen Bildern nicht.

Jetzt also Matthäus, in unserem Bild. Der sitzt mit seinen Kumpanen im Zollbüro, als Jesus, begleitet von Petrus, den Raum betritt. Geldmünzen liegen auf dem Tisch, und zwei aus der Gruppe kommen mit ihrem Blick gar nicht vom Geld los. Matthäus, der mit dem Bart, schaut immerhin auf, schaut zu Jesus hin, greift dessen Handbewegung auf, zeigt auf sich. Meinst du mich? Ja, er ist gemeint. Matthäus, so sagt das Evangelium, steht auf. Er verlässt die Geldwelt mit ihrer Faszination, er verlässt das Zollbüro mit seiner Korruption und folgt dem Rufenden.

Der Ruf kam nicht nur damals, vor zweitausend Jahren. Jesus ruft in jede Zeit hinein. Der Maler drückt das so aus, dass er die Gruppe um Matthäus in die Gewänder seiner Zeit gesteckt hat. Sie sind so ähnlich gekleidet wie die Schweizergarde in Rom noch heute. So lief man um 1600 herum. Jesus und Petrus dagegen tragen die Kleidung der biblischen Zeit.

Wir Menschen tragen immer die Gewänder, aber auch die Gedanken und Gefühle unserer jeweiligen Zeit in uns. Wir kommen da kaum raus. Aber auch wenn sie wie Rüstungen wirken – der Ruf kann dennoch durchdringen.

Jesus kommt nicht allein. Er hat Verstärkung mitgebracht: den Petrus. Neue Bildanalysen mit modernster Technik zeigen, dass Caravaggio erst später den Petrus zugefügt hat. Jetzt verstellt er ein wenig die Sicht auf Jesus. Man sagt dem „Bodenpersonal des Herrn“ nach, dass es mitsamt der ganzen Kirche oft genug „im Weg ist“ und den Blick auf Jesus erschweren kann. Die gegenwärtige Situation macht das überdeutlich. Immerhin: Petrus übernimmt die Handbewegung Jesu: schüchterner zwar und längst nicht so ausdrucksvoll. Die Apostel und ihre Nachfolger rufen mit, geben den Ruf weiter – in Jesu Namen.

Achten wir auf die Handbewegung Jesu. Vielleicht kommt sie uns woanders her bekannt vor. Die Zeitgenossen des Malers dürften sie jedenfalls gleich erkannt haben. Ein paar Jahrzehnte vorher hatte der große Michelangelo die „Erschaffung des Menschen“ in der Sixtinischen Kapelle gemalt. Caravaggio „zitiert“ ihn nun sozusagen, er greift die Geste auf, mit der Gott den Adam ins Leben ruft. Der Ruf in die Nachfolge, ins Christsein ist wie eine „zweite Schöpfung“! Der „alte Adam“ in uns oder die „alte Eva“ – der naturhafte Mensch – schaut nicht auf, blickt weiter aufs Geld, ist fixiert darauf. Oder er blickt auf sich selbst, beschaut sich sozusagen permanent im Spiegel. Selfies ohne Ende! Der Mensch, den der Ruf trifft – wie Matthäus –, schaut auf, blickt auf Jesus, richtet sich an ihm aus. Wo Christus, der „neue Adam“, Raum bekommt, wird es dem „alten Adam“ eng.

Unser Bild gilt für alle Zeiten, auch für heute. Es lädt ein, vom Gewohnten, das uns ganz in Beschlag nimmt – hier vom Geldtisch – aufzubrechen. Das, was andauernd Macht über uns hat, kann entthront werden. Wir können die Blickrichtung ändern, wir können aufschauen. Erst dann sehen wir die Hand Gottes. Der Rufer ruft in die Nachfolge, und die kann ganz verschiedene Formen haben. Man muss nicht gleich ans Kloster denken. Nachfolge Christi – mitten in der Welt: auch als Eltern, auch im Beruf, wenn wir dessen Spielräume nutzen.

Das Bild sagt: Der Weg geht ins Licht, in Richtung der Lichtquelle über dem Kopf Jesu. Nach draußen, und nach innen. Der alte Adam – über das Geld gebeugt – hat nicht das letzte Wort, sondern: Christus.