Untergetaucht

Predigt am 08.01.2023


Eines Tages wurde Jesus im Jordan getauft. Vermutlich wurde er von Johannes dem Täufer im Wasser des Flusses untergetaucht. Nur in einer einzigen Kirche im Bistum Essen, nämlich in Wattenscheid-Höntrop, macht man es ähnlich: Es gibt dort ein Taufbecken, fast so etwas wie ein kleines Schwimmbecken nach altchristlichem Vorbild. Dort können Kinder und Erwachsene ganz eingetaucht werden in das Wasser, oder besser: in das Leben, in das Sterben und in die Auferstehung Jesu Christi. Ganz hinein in das neue Leben mit Christus! Täufer und Täuflinge werden dabei ganz nass. Das ist ein viel stärkeres und deutlicheres Zeichen als das Übergießen mit ein paar Tropfen Wasser.

Untergetaucht. Das Wort ist doppeldeutig. Man kann nicht nur im Wasser untertauchen, sondern auch in der Menge, in der Anonymität, im Underground, im Unbekannten. In Krimis kommt das dauernd vor. Verbrecher tauchen unter, um der Polizei zu entgehen. Auch politisch Verfolgte tauchen unter und warten auf bessere Zeiten.

Ich las vor ein paar Tagen einen Leserbrief des Aachener Priesters Georg Lauscher („Christ in der Gegenwart“, zum 8.1.2023), der mich sehr beschäftigt hat.
Lauscher ist ein bemerkenswerter Mann; als Priester hat er in sozialen Brennpunkten mit Flüchtlingen und Obdachlosen gelebt, in einer Fabrik gearbeitet und in einer Strafanstalt Gefangenen beigestanden. Christus ist bei ihm nicht nur auf den Altären, sondern auch – und vielleicht mehr noch – „auf der Straße“, untergetaucht im Armen und Hilfsbedürftigen, im Nächsten. Ich gebe hier seinen Leserbrief wieder:

„Er – Jesus – ist untergetaucht. Alles hat Er hinter sich gelassen. Seit Jahrhunderten hat Ihn niemand mehr gesehen. Einige Hinweise für alle, die ihn suchen wollen: Er sieht aus wie alle – und Er ist es doch. Man sagt: Sein Leben sei das eines Menschen, seine neue Heimat der Mensch. Er lebt in aller Öffentlichkeit, zwischen Wohnblocks, auf Straßen und Plätzen. Weil Ihn alle zu kennen glauben, kennt ihn keiner. Weil er so öffentlich lebt, bleibt er inkognito, unerkannt. Ja, Er sieht aus wie alle und ist es doch. Am ähnlichsten sieht Er wohl den Kindern, den Habenichtsen und den Alten, die kaum noch können. Aber selbst unter ihnen ist er nicht zu fassen. Wahrscheinlich ist er überhaupt nicht zu fassen. Ja, es ist geradezu umgekehrt – und dies ist die einzige Möglichkeit, Ihm auf die Spur zu kommen: Nur wer sich von Ihm finden und erfassen lässt, wird Ihn finden und fassen.
Aber Vorsicht! Genau in dem Augenblick, in dem Sie Seiner habhaft zu werden glauben, genau in diesem Augenblick ist Er schon verschwunden. Doch jeder, der Ihn sucht, soll wissen: Es lohnt sich, Ihn zu suchen, wach zu sein, aufmerksam zu leben und auf das Leben jedes Menschen zu achten. Er könnte es ja sein! Dieser Untergetauchte, dieser Stille, der nicht lärmt, dieser Demütige, der nicht herrscht, dieser Sanfte, dieser Freie!
Übrigens: Auch wir sind Untergetauchte. Seit der Taufe sind wir Untergetauchte. Taufen bedeutet: sich vertiefen, untergetaucht werden. So sind wir mit denselben Wassern gewaschen wie Er. Wir sehen aus wie alle – und sind es doch: Sein Leib und Sein Leben für diese Welt.“


Er – Jesus – ist untergetaucht. Ich stelle mir vor, wie der Aachener Priester im 10. Stock eines Wohnblocks gelebt hat. Tür an Tür mit allen Nöten dieser Welt. Alkoholprobleme, Drogen auch, kaputte Ehen und Beziehungen, verwahrloste Kinder, Isolation. Menschen, denen keiner zuhört. „Hier habe ich Christus geahnt und gefunden“, sagt der Priester. Hier stehen die Kreuze der Welt. Hier sind die Wunden zu sehen. Hierhin kommt der Erlöser.

Ich habe vor Jahrzehnten mal eine Weihnachtsgeschichte geschrieben – nur eine einzige. Gott kündigt da sein Kommen in der Stadt an, sagen wir in Lüdenscheid. Aber wo genau er ankommt, sagt er nicht. Und nun wirft sich die Stadt in Schale, am Sauerfeld und auf dem Rathausplatz und um die Altstadt herum. Podeste und Blumen und Fahnen und Schmuck – eine Riesenvorbereitung! Eine Menschenmenge versammelt sich – fast so wie neulich auf dem Petersplatz.
Jetzt müsste er doch kommen! Aber die Menge wartet vergeblich – und geht enttäuscht nach Hause.
Nur vom Rand der Stadt her, aus einer Siedlung mit schlechtem Ruf, wird vermeldet, dass dort ein Fremder erschienen sei und mit den Leuten geredet habe, und etliche seien wie verwandelt gewesen. „Da sieht man mal wieder,“ dachte ein uralter Pfarrer bei sich, „immer kommt Er nur durch die Hintertür!“

Durch die Hintertür. Untergetaucht in der Menschheit, die oft nichts von ihm weiß. Mitten unter den Menschen steht Er – unerkannt. Nie beweisbar. Mitten unter den Menschen geht er Wege mit – erst anonym, wie der österliche Jesus mit den Emmausjüngern. Dann erkennbar, im Glauben.

Getauft werden, sein Kind taufen lassen – das könnte bedeuten: Eintauchen in diese göttliche Welt, in dieses göttliche Leben. Sich finden lassen und sich berühren lassen von Ihm. Die Sehnsucht nach Ihm niemals loslassen. Ihm auf der Spur – nicht in eine religiöse Nische hinein, sondern in die wirkliche Welt, in die Realität hinein, in Beruf und Familie und alle Herausforderungen hinein. Wissen, dass er da ist. Und versuchen, ihm ein Gesicht zu geben, in dieser Welt.