Zachäus, vielschichtig

Predigt am 30.10.2022


Wer war Zachäus? Hier sind acht Antworten:

1
Zachäus ist Chef des Zollamtes von Jericho. Ein begehrter Posten! Ein Hort der Korruption! Man kann sich eine Menge in die eigene Tasche stecken. Nur: das Amt wird von der verhassten Besatzungsmacht, von den Römern vergeben; Zachäus hängt von ihnen ab. Man kann sich vorstellen: Das Volk liebt ihn nicht. Viele verabscheuen ihn. Zu den Sympathieträgern gehört er ganz sicher nicht!

2
Zachäus ist ein neugieriger Mensch. Oder sagen wir: offen, interessiert. Sein Interesse gilt nicht nur dem Geld. Auch Wanderpredigern wie Jesus, wenn sie etwas zu sagen haben. In Buchhandlungen blättert er gern in der Abteilung „Spiritualität“ herum. Er hält sich selbst für einen „Suchenden“, einen Sinnsucher. Aber nirgendwo geht er da so ganz „vor Anker“.

3
Zachäus steht nicht bei der Menge. Den angekündigten Wanderprediger Jesus sieht er sich lieber aus sicherer Entfernung an. Versteckt im Laub eines Feigenbaumes. Ein bisschen erinnert das an den alten Adam, der sich mit einem Feigenblatt die Blöße bedeckt. Beide halten sich „bedeckt“ – Adam aus Furcht vor Gott, wegen des Sündenfalls, der Zöllner aus scheuem Interesse. Schwellenängste – so sagt man heute. Zachäus bleibt in Deckung, in sicherer Distanz, am Rande. Er bleibt in der Rolle des Zuschauers. Aber er hält Ausschau nach Jesus. Ob eine starke Erwartung, eine Sehnsucht nach einem anderen Leben in ihm gefunkt hat? Denn alles Große „beginnt mit der Sehnsucht“.

4
Zachäus ist klein von Gestalt. Klein geratene Menschen haben oft den Wunsch in sich gehabt, größer zu sein, zu wachsen. Ich stelle mir vor: Der reiche kleine Mann denkt auch klein von sich: Ich bin nichts. Nur das Geld und die Macht haben mich zu etwas gemacht, haben mir Ansehen gegeben. Ich stelle mir Zachäus einsam vor. Aber der kleine Mann wird in der Geschichte ganz groß – er klettert in ungeahnte Höhen, da auf seinen Logenplatz im Baum. Er wächst über sich hinaus, erst bildlich, dann innerlich, mit seinem Herzen. Er steht für die vielen Menschen, die seelisch wachsen und nicht einfach stehen bleiben und stagnieren wollen. Für die Menschen, die sich einen inneren Wachstumsprozess wünschen.

5
Zachäus hat einen unpassenden Namen. „Der Reine“, so müsste man ihn übersetzen. Ausgerechnet er! Oder passt der Name doch? Und woher weiß Jesus ihn? „Zachäus, komm schnell herunter vom Baum,“ so ruft er. Zachäus braucht den Baum nicht, um groß zu werden. Aber er braucht den Blick und den Ruf Jesu, um wachsen zu können. Jesus schaut ihn an. Er sieht nicht die Korruption und die Kollaboration mit den Römern, sieht nicht den schlechten Ruf. Jesus sieht die Person, das sehnsüchtige Herz. Sein Blick („er schaute hinauf“) geht durch die Blätter des Baums und durch die Oberfläche des Menschen hindurch. Und so kommt der Prozess des wirklichen Wachstums in Gang.

6
Zachäus wird zum Gastgeber. Er nimmt Jesus auf – als Gast. Vielleicht für immer. Wer Tisch und Mahl, Brot und Wein miteinander teilt, gehört zusammen, trotz aller Anfeindungen und schiefen Blicke. Er hört von Jesus keine Vorwürfe, Ermahnungen, Bedingungen und Besserungsvorschläge. Zachäus muss nichts leisten. („Wenn – dann…“) Aber er ahnt eine bedingungslose Zuneigung und Annahme. Der Wanderprediger Jesus predigt nicht Liebe – er verkörpert sie! Der Gastgeber Zachäus ist der Empfangende. Auch ihm – gerade ihm, dem Verhassten – gilt diese Liebe.

7
Zachäus geht durch eine Umkehr hindurch. Nicht zerknirscht und reueschwer, nicht mit hängendem Kopf, sondern in großer Freude. Er muss nicht – er will, und er kann! So geht Christentum: nicht müssen – Gebote einhalten müssen, sondern – können, selber wollen! Wie der Schatzsucher, der den Schatz im Acker gefunden hat und nun freudig alles loslassen kann, um ihn zu erwerben. Die Hälfte des Vermögens und die vierhundert Prozent Rückzahlung wiegen da nichts mehr angesichts des Gastes und dessen, was er ausgelöst hat.

8
Zachäus wird ein „Heiliger“, einer im Heil. „Heute ist diesem Haus das Heil geschenkt worden,“ sagt Jesus. Das Heil: Geschenk, Gnade. Nicht Lohn und Verdienst. Es wird geschenkt, dieses Heil. „Auch dieser Mann ist ein Sohn Abrahams!“ Also nicht nur ein Sohn des Sünders Adam mit seinem Feigenblatt, sondern ein Sohn des Glaubens – trotz allem. Einer nicht vom „harten Kern“ der Glaubenden, sondern von den Rändern her. Einer von den „Fernstehenden“, dem Nähe geschenkt wird. Einer in den Vorhöfen, der heiligen Boden entdeckt. Einer, der unserer Zeit nahe ist.