Nairobi, Weltmissionssonntag

Predigt am 23.10.2022


Dieses Jahr geht es am Weltmissionssonntag nach Kenia. Das ist ein schönes Land. Ich war dort 1979, und weil es so schön war, fuhr ich auch 1980 wieder dorthin. Nairobi, die Hauptstadt, hatte damals, vor 40 Jahren, ca. eine Million Einwohner. Heute sind es rund 5 Millionen. Das kommt durch die Landflucht. Die Leute haben auf dem Land oft keine Arbeit und keine Perspektive. Und so hoffen sie, die Metropole Nairobi könnte ihnen eine bessere Zukunft bieten. Vielleicht haben sie dort Verwandte, bei denen sie die erste Zeit unterkommen. Auf jeden Fall landen sie – genauso wie viele Flüchtlinge aus den Nachbarländern – in den Suburbs, in den Slums. 80% der Einwohner leben dort. Die Slums Mathare Valley und Kibera, die heute im Fokus von MISSIO sind, gab es damals schon. Sagen wir: Die räumliche Größe ist etwa die von Gevelndorf, von Hellersen oder von Brügge. Und da leben dann, auf engstem Raum, 200 oder 500.000 Menschen. Die Straßen waren damals nicht asphaltiert, sind es wohl immer noch nicht. Kommt ein Starkregen, steht alles unter Wasser. Die Häuser – oder besser: Hütten – haben Lehmwände und Wellblechdächer, und auf 20 qm lebt eine fünf- oder sechsköpfige Familie. Wir würden es dort wohl keinen Tag aushalten.

Aber merkwürdig: Die Kenianer kommen da besser zurecht als gedacht. Sie bemitleiden sich nicht selber. Viele Leute entwickeln eine große Phantasie und Kreativität, um dort zu (über-)leben. Ein holländischer Pater nahm uns damals mit und zeigte hierhin und dorthin. „Guckt mal,“ sagte er. „Der kleine Shop da vorn. Der junge Besitzer bekam von uns vor Jahren eine Kamera. Er hatte Geschick zum Fotografieren. Heute entwickelt er die Passbilder für die Leute. Alle brauchen das. Und von den Bildern kann er einigermaßen leben.“ Und dann ging er mit uns in seinen Jugendclub. „Hier ist unsere Boxabteilung. Die Jungs trainieren hier und sind später als Security Men in der City heiß begehrt. Und da drüben ist unsere Schneiderei. Die Kleider aus den bunten Stoffen werden gern gekauft. Hier, in diesem Hof, recyclen wir Abfälle. Aber am bekanntesten sind unsere Musikbands. Die jungen Leute haben die Musik im Blut! Sie sind in der ganzen Stadt bekannt.“

Vieles hat sich seitdem geändert. Alle Leute haben ein Handy und können sich seitdem viel besser informieren. Und weiße Missionare gibt es kaum noch. Die Kirche ist einheimisch, afrikanisch geworden. Neben der katholischen Kirche sind unglaublich viele kleine Freikirchen entstanden. Die haben keine Vorgaben aus Europa und aus Rom. Die „afrikanische Seele“ wird bei ihnen leichter sichtbar und hörbar. Bestimmt gibt es über tausend Bischöfe in Nairobi – alle in ihren Phantasiegewändern. Es reicht ein kurzes Bibelstudium – und du bist Bischof! Oder Bischöfin. Die jeweilige Herde ist klein, meist nur ein paar hundert Leute – aber das Gemeinschaftsgefühl ist groß. Die entwurzelten Leute aus den Slums, die nur noch schwache Bindungen an ihre Familien auf dem Lande haben, und die Flüchtlinge finden in den Gemeinden eine neue Heimat.

Aber auch in der katholischen Kirche schließen sich Jüngere und Ältere zu Gruppen zusammen, um in der belastenden Situation der Slums zusammenzustehen. Eine Frau, die eine Mikrokreditgruppe mitbegründet hat, eine kleine Genossenschaft, die gemeinsame geschäftliche Initiativen, z.B. Verkaufsstände auf dem Markt finanziert, sagt: „Wir wollen eins sein mit den Menschen, von klein auf. Gemeinsam wollen wir sehen, was passiert, und was von uns getan werden kann.“

Der Glaube ist dabei eine große Kraftquelle. Die Bibel ist kein Buch für den Bücherschrank; viele Leute sieht man mit der Bibel in der Hand. Sie „gehen damit um“. Das heutige Evangelium vom Pharisäer und vom Zöllner – Lk 18,9 - 14 – würde sie wahrscheinlich ganz elementar ansprechen. Denn es zeigt einen Gott, der nicht auf das Äußere schaut, auf den Pharisäer in seiner Selbstgerechtigkeit, sondern in das Herz der Menschen blickt. Gott hält es hier mit dem Zöllner – auch wenn andere diesen ausgrenzen und auf ihn herabblicken. Gott bevorzugt nicht den Reichen gegenüber dem Armen und überhört nicht die Klage eines ungerecht Behandelten. Jesus verkündet einen Gott, der ein offenes Herz hat für die Nöte und Sorgen der Menschen, und der schon durch den Propheten Jeremia sagen ließ: „Ich will euch Zukunft und Hoffnung geben!“ Jeremia hatte damals die jüdische Gemeinde in der Diaspora im Blick, in der Verbannung in der weit entfernten Riesenstadt Babylon. „Baut Häuser und wohnt darin,“ fährt Jeremia fort, „pflanzt Gärten und esst ihre Frucht - und sucht das Wohl der Stadt“ (Jer 29, 5 - 11). Das Volk wird also ermutigt, nicht zu resignieren, sondern die Gemeinschaft zu stärken und die täglichen Herausforderungen anzunehmen.

Für die afrikanischen Christen ist das Babylon von damals das Nairobi von heute. Die allermeisten leben in der Fremde, wie damals die Juden in Babylon. Und Gott ist für sie wirklich und präsent – nicht wie der von Zweifel und müder Skepsis überlagerte Gott der meisten Europäer. Ja, er ist ihre Kraftquelle! Eine Schwester sagt: „Gott lebt unter uns in der Gesellschaft. Wer sich für die anderen einsetzt, kann Gott an jedem Tag begegnen. Wir wollen deutlich machen, dass die Leute in den Slums zur Familie Gottes gehören. Und dass die Welt – unsere Welt – ein besserer Ort werden kann.“

So ertragen viele in Nairobi die schwierigen Lebensverhältnisse der Armut, suchen Gemeinschaft und Zusammenstehen, kommen auf sehr kreative Ideen, und schauen nach vorn – in die Richtung, in der die verheißene „Zukunft und Hoffnung“ liegt.