Mit erhobenen Armen beten

Predigt am 16.10.2022


Wir sind jetzt nicht in einer Gymnastikstunde, aber versuchen Sie mal, in Gedanken die Arme auszubreiten und sie nach oben zu erheben – und das nicht für ein paar Sekunden, sondern minutenlang … noch länger … kaum auszuhalten! Die Arme werden schwer und schwerer, die Übung wird auf die Dauer sehr anstrengend! So ist es dem Mose in der Lesung ergangen. Während das Volk gegen schlimme Feinde kämpft, betet er mit ausgestreckten Armen und sieht seine Leute im Kampf gewinnen. Aber dann macht er schlapp und lässt die Arme sinken, und auch das Heer macht schlapp und kommt gegen die Feinde nicht an. Nur solange Mose die Hände erhoben hält, sind seine Leute stark.

Merkwürdige Geschichte! Schauen wir näher hin. Ob es uns passt oder nicht: Im Alten Testament wird ständig gekämpft. Dauernd ist Krieg und Gewalt. Und wir hätten es so gerne friedlich, passend zum Gott der Liebe. Aber sein Volk steht immer wieder mit dem Rücken zur Wand. Es muss kämpfen, sonst geht es unter. Diesmal ist Amalek der Führer der feindlichen Truppen. Gegen ihn ziehen seitens der Juden Josua und seine Männer. Sie wagen den Einsatz, sie kämpfen gegen die bedrohliche Gefahr, sie sind mutig und entschlossen. Aber sie sind nur solange stark, wie Mose auf dem Berg seine Arme erhebt – und betet.

Wir erleben hier eine Art Arbeitsteilung: der eine, Josua, kämpft mit dem Schwert, und der andere, Mose, betet um Gottes Beistand für sein Volk. Einer muss an der vordersten Front sein, und einer muss im Hintergrund sein – auf dem Gipfel des Berges: ein Beter. Denn „die Hände erheben“, das heißt beten, so wie jeder Priester in der Messe die Hände zum Gebet ausbreitet. Das war früher die übliche Haltung beim Beten.

Kampf und Gebet kommen hier zusammen. Die Lesung sagt: Man darf im Kampf gegen die Ungerechtigkeit oder Unfreiheit die Hände nicht sinken lassen.

Haben wir es noch parat? Vor ein paar Wochen feierten wir ein großes Ereignis unserer Geschichte. Seit 33 Jahren ist die Mauer in Berlin weg. Der Weg zur deutschen Einigung war wirklich wie ein Wunder! Kein einziger Schuss fiel, kein Blutvergießen! Die Leute trafen sich damals in den Kirchen, etwa in Leipzig, mit Kerzen und Gebeten. Es wurde gebetet, und danach wurde demonstriert. Und die Saat ging auf.

Das ist die Botschaft aus dem Alten Testament heute – und es ist wichtig, dass wir die ganze Botschaft und nicht bloß die halbe Botschaft hören. Ihr dürft die Hände nicht sinken lassen: das meint die Hände, die an vorderster Front tätig sind, sich einsetzen, kämpfen – die Hände des Josua und seiner Männer –, und das meint die Hände, die zum Gebet erhoben sind, im Hintergrund, auf dem Gipfel des Bergs: die Hände des Mose und seiner Begleiter. Immer wieder gab es Zeiten und Menschen, die das eine gegen das andere ausspielen wollten – vor allem Menschen, die die erhobenen Hände des Gebetes ziemlich überflüssig fanden und fragten: Was bringt das denn? Für die Bibel aber gehört beides untrennbar zusammen: Einsatz und Gebet, „ora et labora“ – bete und arbeite!

Der Kampf gegen die Bedrohungen der Menschheit spielt sich nicht bloß in Taten und Handlungen und nicht bloß im Kopf der Vernunft ab, sondern im Herzen – er soll vom Gebet getragen sein. Im Herzen liegt die Quelle für beides. Das sagt uns die Lesung. Der Kampf soll vom Gebet getragen sein, damit er nicht schwächelt, nicht den langen Atem und die Geduld aufgibt, nicht seine Kraft verliert! Wir beten im Hintergrund, im Innersten unseres Herzens, damit der Einsatz unserer Hände und Füße an der Front unseres Alltags nicht lahm wird und Gottes Willen entspricht!

In diesem Sinne hat auch Jesus im Gleichnis von der hartnäckig bittenden Witwe dem beharrlichen Bitten und Beten den Erfolg verheißen. Diese Frau, die gegen alle Widerstände und gegen alle Gefühle der Ohnmacht beharrlich jeden Tag anmarschiert kommt und beim Richter anklopft, verkörpert sozusagen in einer Person den betenden Mose und den kämpfenden Josua.

Aber selbst einem solchen geistlichen Schwergewicht wie dem Mose kann die Puste, kann die Kraft ausgehen. Wie viel mehr uns! Wir lassen die Hände sinken. Wir werden des Betens müde. Über manche Strecken des Lebens können viele nicht mehr beten, selbst wenn sie es wollen. Ob es dann Hilfen gibt – dass ein anderer für mich betet? In der Lesung steht Mose nicht allein. Seine Gefährten Aaron und Hur sind dabei. Zunächst holen sie einen Steinblock, damit Mose sich setzen kann. Wenn ihm die Arme schwer werden und sinken wollen, stützen die beiden sie: der eine rechts, der andere links. Das ist ein starkes Bild für die Kirche, für die Gemeinde: Dass einer dem anderen „unter die Arme greift“! Dass einer den anderen stützt – nicht nur in Notlagen, sondern im Gebet. Manchmal fehlen mir die Worte, und eine innere Trockenheit macht sich breit, die am Beten hindert. Ich fühle mich dann sehr gestützt, wenn ein anderer – ein Aaron heute – statt meiner betet. Ich fühle mich überhaupt sehr gestützt, wenn Christen den Mut haben, zu zweit, zu dritt oder zu mehr, in der Familie oder in Gruppen, frei und persönlich und ungezwungen miteinander zu beten. Wir sind es kaum gewohnt, das zu tun. Wir genieren uns oft geradezu. Und doch können wir darin eine Kraft finden, die uns hilft, die Hände nicht sinken zu lassen. Die Kraft von Menschen und Worten, die uns stützen. Und darin die Kraft Gottes.