„Da gilt nicht …“

Predigt am 19.06.2022


Das sind faszinierende und folgenreiche Verse aus dem Galaterbrief: „Ihr alle seid durch den Glauben Gottes Kinder in Christus Jesus.“ Ja, das ist so – bis heute: Mit der Taufe werden wir sozusagen hineingetaucht in Jesu Gegenwart. Wir werden ein Teil seines Leibes, der Gemeinschaft, die sich in seinem Namen versammelt. Wir tauchen ein in eine neue Welt, in der die sozialen Unterschiede uns nicht mehr voneinander trennen können. Ein kleines Kind aus Afrika zählt und wiegt da genau so viel wie die Königin von England.
„Ihr alle…“ – nicht nur einige von Euch, nicht nur die Guten, die Wohlangesehenen, nein: Ihr alle – Menschen aus Juden und aus allen Völkern, aus den Heiden, ihr Freigeborenen und Wohlangesehenen, aber auch ihr Sklaven, ihr Armen, ihr Niedrigen, ihr, die ihr in der Gesellschaft verachtet seid; ihr Männer und ihr Frauen, ihr Jungen und ihr alten. Alle seid ihr „Kinder Gottes“, angenommen von Gott.

Wir sind damit angekommen in der Tauffeier der Kirche zur Zeit des Paulus. „Ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen.“
Die Bibel ist uns da weit voraus. Wir haben sie gewiss noch nicht eingeholt. Auch unsere heutige demokratische Kultur macht gewaltige Unterschiede zwischen den Menschen. Schauen wir nur auf die Flüchtlinge. Die Ukrainer werden gern aufgenommen und sofort eingegliedert. Sie gehören unserem Kulturkreis an, sind meist Mütter mit Kindern, man kann sich leichter mit ihnen verständigen.
Die Flüchtlinge aus Afghanistan oder Afrika sind dagegen deutlich Flüchtlinge „zweiter Klasse“ und haben es viel schwerer, akzeptiert zu werden. Gleiche Würde und gleiche Rechte für alle – alle im gleichen Rang: Kinder Gottes – ja, wo wird das gelebt?

Wir Menschen haben seit ewigen Zeiten die Neigung, das WIR-Gefühl als Volk, als Konfession oder als eine bestimmte Gruppe zu stärken auf Kosten der anderen. Als Konfession: In meiner Gesamtfamilie war früher die erste Frage, wenn eine der Töchter sich verliebte: „Ist der junge Mann denn auch katholisch?“ Als Volk – da waren die Griechen zur Zeit des Paulus besonders eingenommen von sich und ablehnend gegenüber „den anderen“. Die anderen nannten sie die Barbaren, und die waren eben kulturlos, rückständig, hinterwäldlerisch, brutal – „barbarisch“ eben. Auch die Juden der damaligen Zeit setzten die anderen herab – als unrein, sündig, als Heiden“. Heutige Völker und Nationen verhalten sich da nicht besser.

Paulus schreibt nun: „Hier gilt nicht Jude noch Grieche“! Wenn es um Menschen geht, ist jedes nationale Schubladendenken schlecht; es hindert uns, den anderen wirklich zu begegnen. Ist es ein deutscher oder rumänischer Bewerber, der nach einer Wohnung oder einer Arbeitsstelle fragt? Als erstes ist es ein Mensch wie du und ich, geschaffen von Gott, nach seinem Bild, mit seinem Geist, seinem Lebensatem lebendig gemacht.
Weiter bei Paulus: „Es gibt auch nicht mehr Sklaven und Freie, nicht männlich und weiblich. Denn ihr seid alle einer in Christus!“ Jawohl, liebe Christen, recht gehört: Männlich soll sich nicht über weiblich erheben! In den frühen Gemeinden hat man schon heftig darüber diskutiert, was diese neue Gemeinschaft in Christus denn nun für das Zusammenleben von Männern und Frauen bedeute. Gleiche Würde, gleiche Rechte? Gleichberechtigtes Miteinander? Von der Bibel her ein klares Ja! Schon von der Schöpfungsgeschichte her: „Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau.“ (Gen 1,27)

Mann und Frau sind beide gleichermaßen geschaffen als Bild Gottes, in ihrer Unterschiedlichkeit ausgestattet mit derselben Würde, denselben Rechten und Aufgaben. In Christus wird dieser Schöpfungsgedanke wieder lebendig. Wir sind verbunden als Geschwister im Herrn. Sein Geist kann uns helfen, die Unterschiede zwischen uns als Chance und Bereicherung wahrzunehmen, und nicht als Hindernisse und Benachteiligung. So etwa ist die Vision Gottes von einer neuen Gemeinschaft. Es ist nun leider wahr, dass wir Christen hinter dieser Vision weit zurückgeblieben sind. Wir haben uns nicht an die Vision Gottes gehalten, sondern – von Anfang an – an die patriarchalischen Verhältnisse der damaligen Welt, an die Zuteilung: Frauen gehören ins Haus, Männer an die Front und an die Macht. Und weithin allein in die Ämter der Kirche – selbst Mädchen als Messdienerinnen gibt es erst seit gut 40 Jahren! Der Weg zu einer Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern ist heute allen bewusst, aber er wird nur sehr langsam und zögerlich begangen, und die Geduld der Frauen mit dieser Situation wird sehr strapaziert.

Ich lerne daraus: Die Worte von Jesus und Paulus sind Einladungen und Herausforderungen für uns heute. Es sind Worte, die uns öffnen wollen für andere, für eine Gemeinschaft, in der alle wertgeschätzt sind und allen die gleiche Würde zuerkannt wird. Und das ist keine Gemeinschaft der Gleichmacherei! Vielheit, Buntheit, Unterschiedlichkeit wird hier geachtet und respektiert: die ganz unterschiedlichen Gaben und Talente und Kulturen und Prägungen der Menschen – Ausdruck des Reichtums der Lebenserfahrungen und Lebensgeschichten, die unter uns präsent sind. Und für die wir sehr dankbar sein dürfen!