Sprachen sind kein Hindernis

Pfingstpredigt am 05.06.2022


In Lüdenscheid, wo ich herkomme, wohnen Menschen aus mehr als hundert Nationen. Sie sind sicher sehr unterschiedlich – hinsichtlich der Sprache, der sozialen Schicht, der Kultur, der Religion. Aber eines ist allen gemeinsam: Mensch zu sein. In der Sprache des Glaubens: Kinder Gottes zu sein.

Ich hatte einmal im Leben einen markanten Autounfall. Ausgerechnet an der Lenne, kurz vor Plettenberg. Mehr als dreißig Jahre ist das her. Auf vereister Straße fuhr ich kurz vor Mitternacht gegen einen Baum. Keine Hilfe weit und breit. Ich stand da verdattert und ziemlich hilflos in der frostigen Nacht. Ein Handy hatte ich da noch nicht. Zehn Autos fuhren vorbei, keines hielt. Alles deutsche Qualitätswagen. Erst das elfte Auto stoppte – mit vier jungen Türken. Sie kamen von einer Party und halfen und taten, was zu tun ist. Seitdem beantworte ich die Frage: „Wer ist mein Nächster?“ mit der Antwort: „Als es drauf ankam: vier junge Türken! Die haben sich als Nächste benommen!“

In großen Teilen der Welt will man so etwas nicht mehr hören. Nur das Eigene wird hochgehalten, aus welchen Gründen auch immer. Das eigene Land zuerst. Der Rest der Welt kann warten. Die eigene Sprache, Kultur, Religion zuerst und allein!
Das Fremde und Andere scheint bedrohlich, lästig, manchmal unheimlich. Das ersparen wir uns lieber! Damit wollen wir nichts zu tun haben! Aus Amerika hörte man von ganz oben solche Töne, aus Russland, aus China und Indien, aus der Türkei, aus Polen und Ungarn und vielen anderen Ländern. Unser Land ist auch nicht frei von solchen Stimmen und Stimmungen.

Ich selbst habe die Welt anders erlebt. Und besonders darum, weil es eine Weltkirche gibt, in der man überall irgendwie zuhause ist! Ein Schlüsselerlebnis war in meinen jungen Jahren ein dreiwöchiger Aufenthalt im Wallfahrtsort Lourdes. Wir waren Studenten, meist Theologen, die den Kranken in Lourdes beistanden. Wir lebten zusammen und schliefen in einem großen Schlafsaal: zwanzig Mann aus vierzehn Ländern. Der Pfingstgeist hat da mächtig geweht! Das war Weltkirche pur.
Oder Taizé in Frankreich. Das kleine Dorf, wo sich vor allem viele Jugendliche aus aller Welt treffen. Eine Brüdergemeinschaft mit ihrer ergreifenden Liturgie ist dort der Magnet. Da kann es dann sein, dass unsere jungen Leute aus dem Sauerland in der großen Kirche in einem Block sitzen mit Jugendlichen aus Litauen, aus Portugal oder aus Rumänien. Alle singen und beten zusammen, und die verschiedenen Sprachen sind kein Hindernis. Ein gemeinsamer Geist hat alle erfasst. Und der ist so stark, dass so mancher geradezu „süchtig“ wird nach Taizé und immer wieder mit Freude dorthin zurückkehrt.

Globalisierte Welt, die wir erleben – gerade auch im Ruhrgebiet. Ein Pastor einer Innenstadtgemeinde in Duisburg sagt mir: „Von meinen zwanzig Messdienern sind gerade mal fünf Deutsche. Die anderen kommen aus Ghana, aus Sri Lanka, aus dem Irak und den Philippinen. So bunt ist die Glaubenswelt bei uns geworden!“

Ja, liebe Schwestern und Brüder, dass wir Weltkirche sind, ist eine der wirklichen Stärken unseres Glaubens. Seit dem ersten Pfingsten, damals vor fast 2000 Jahren, gibt es keine Ausländer mehr für die Kirche. Jeder ist Bürger im Reich Gottes! Keine Trennschranken! Keine Wertungen der Herkunft und der Hautfarbe! Wer dennoch trennt und (ab-)wertet, hat da was nicht richtig verstanden!

Ein riesiger Brückenschlag ist dieses Pfingsten gewesen – und ist es immer noch.
„Wir hören sie in unseren Sprachen Gottes große Taten verkünden!“ Fassungsloses Staunen hat damals die Leute erfasst. So viele Fremde waren in der Stadt, in Jerusalem: Leute aus diesen schwer auszusprechenden Provinzen: Kappadokien, Phrygien und Pamphylien – heute alles Türkei. So viele fremde Stimmen und Klänge schwirrten durch die Luft.
Das kann schiefgehen. Alle können aneinander vorbeireden. Die Bibel erzählt im Alten Testament ja vom Turmbau zu Babel. Den höchsten Turm der Welt will man. Alles muss hoch hinaus! Jeder will der Größte sein. Und da verwirren sich die Sprachen. Man versteht einander nicht mehr. Das Verstehen wird überlagert durch Ehrgeiz, Neid, Geltungssucht – durch den großen Egotrip. Zurück bleiben Spaltungen und Missverständnisse – und die Ruinen des Turms. Wie aktuell das ist!

Und nun Pfingsten. Das ist das positive Gegenbild. Die wunderbare Erfahrung: Verstehen! Plötzlich ist das Verstehen da! Der Geist Gottes teilt sich den Herzen mit. Die Sprache steht nicht mehr dazwischen! Da hat sich Gott einen Sprachkurs erlaubt mit hoher Erfolgsquote! Gottes Sprachkurs, seine Sprachschule zielt nicht auf Grammatik, Vokabeln und Rechtschreibung. Ich höre die befreundeten Eritreer und mit ihnen die anderen Ausländer beim Sprachelernen stöhnen: „Furchtbare Sprache, dieses Deutsch! Drei Artikel - der, die, das. Warum nicht nur ein Artikel: DER – der Sonne, der Frau, der Mann, der Kind? Uns geht der Kopf kaputt bei Deutsch!“
Nein, Gottes Sprachkurs ist anders. Ganzheitlich, würde man heute sagen. Er zielt in die Mitte des Menschen, ins Herz, ins Innere, wo Gott bei uns anklopfen kann.
Da, im Herzen, sagt uns Gott: „Ich verstehe dich!“ Das sagt er übrigens ohne Wenn und Aber. Bei uns heißt es oft: „Ich verstehe dich zwar, aber…“ Und dann kommt irgendetwas, das das Verstehen gleich wieder aufhebt! Bei Gott gilt: Ohne Wenn und Aber sind wir verstanden. Ohne Wenn und Aber sind wir geliebt. Niemals sagt Gott: „Ich liebe dich - aber wenn Du falsche Wege gehst, ist es vorbei mit der Liebe!“
Ich verstehe dich. Nicht nur das, was du sagst. Mehr noch: das, was Du bist!
Manche Ehe- und Liebespaare können das auch: sich wortlos verstehen. Spüren, was der andere fühlt. Wissen, was ihn ausmacht. Und gut damit umgehen. Man nennt das wohl Liebe.

Ein großes Verstehen ist also damals zu Pfingsten sichtbar und hörbar und spürbar geworden. Oder anders gesagt: Eine große Liebe! Den ersten Christen geht auf, was für ein Vater und was für ein Sohn – Jesus – sie da entflammt hat. Ein Gott, der nicht Mauern baut, sondern Brücken. Ein Gott, der die Türen öffnet für alle, die zu ihm wollen. Ein Gott des großen Willkommens.

Gottes Sprache fand damals viele Kursteilnehmer!

Wenn Gott so ist, wie werden dann seine Menschen, seine Gläubigen sein? Werden sie einander verstehen, sich als Brüder und Schwestern erkennen? Werden sie, ohne große Worte, auch die Fremden, die von außen und von den Rändern, willkommen heißen – wie jetzt die Menschen aus der Ukraine? Wird Heiliger Geist, wie ein starker belebender Wind, sie, uns, nach vorne treiben - aufeinander zu? Auf Gott zu?
Ich feiere Pfingsten in der Hoffnung, dass das geschieht - und in mir selbst beginnt.