Märtyrer, auch heute

Predigt am 29.05.2022


Die Welt soll erkennen, durch Euer Wort, dass du mich gesandt hast.

So etwa steht es im Evangelium. Durch euer Wort, sagt Jesus. Ich möchte hinzufügen: durch euer Leben, durch euer Beispiel. Das gute Beispiel von Christen war, glaube ich, mein stärkster Auslöser, um ein Christ zu sein, auch um Priester zu werden. Ich schwenke daher von der ziemlich abstrakten Sprache des Johannes Evangeliums hin zu einem Beispiel, dem ersten Märtyrer – Stephanus in der Lesung (Apg 7, 55-60).

Stephanus gibt wirklich ein radikales Beispiel mit seinem Leben; er gibt sogar sein Leben hin. Wir können heutzutage in Deutschland „ganz gemütlich“ glauben. Es kostet uns nicht viel, bestimmt nicht unser Leben. Mich haben die Märtyrer, die Blutzeugen schon als Kind angezogen – was für spannende, dramatische Geschichten! „Ich möchte auch ein Märtyrer werden,“ habe ich einmal in meinem kindlichen Sinn gedacht, „aber dann doch ohne Blutvergießen!“ Heute würde ich eher sagen: Was für eine Messlatte die Märtyrer darstellen! Es gibt also Menschen, die den Glauben so ernst nehmen, so „ohne Wenn und Aber“ leben, dass das für sie wichtiger wird als das eigene Davonkommen und Überleben!

Schauen wir mal genauer hin, wie das bei Stephanus aussah. Er blickte zum Himmel empor und rief: Ich sehe den Himmel offen! Dieser Mann hat den aufschauenden Blick – er sieht den offenen Himmel, das Tor ist nicht mehr zu, Jesus hat es geöffnet. Wir singen das ja jedes Jahr zu Advent und Weihnachten: Denn verschlossen war das Tor, bis der Heiland trat hervor. Stephanus erfährt das. Er singt es nicht als besinnliches Adventslied. Er ruft es aus – öffentlich. Und eckt an. Kriegt Ärger. Und wir ahnen: Wer für den Glauben einsteht, könnte, ja sollte Ärger kriegen, anecken. Das ist geradezu ein „Gütesiegel“ des Glaubens. Wer mit seinem Glauben immer nur Beifall kriegt, muss wohl irgendwas falsch gemacht haben.

War dieser Himmelsfreund Stephanus ein Spinner, der merkwürdige Visionen hatte, weil ihm diese Welt mit ihren Nöten und Problemen zu mühsam war? Alles andere als das: Stephanus war Diakon der jungen Gemeinde, d.h. so eine Art Caritas-Mann, er kümmerte sich um die Armen und die, die arm dran sind. Die Armen wurden von der jungen Gemeinde nicht hängen gelassen, die ersten Christen hatten noch Jesu Worte im Ohr: Was ihr den geringsten der Menschen getan habt, das habt ihr mir getan! Christus also begegnete ihnen gerade in den Armen! Das ist etwas, was Papst Franziskus ja fast täglich der Christenheit um die schwerhörigen Ohren haut.

Stephanus suchte Gott nicht über den Wolken, er fand Gott in den Armen, in seinem täglichen Dienst. Über sie, die Armen, und über uns ganz normale Menschen war der Himmel ausgespannt. Das wollten seine Gegner nicht hören! So steinigten sie den Stephanus (heißt es in der Lesung); er aber betete und schrie laut: Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht an! Das kennen wir doch irgendwoher – genau, von Jesus selber. Er rief sterbend aus: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun! Wie Jesus betet Stephanus sterbend für seine Verfolger. Das heißt: Er ist ein rechter Jünger, ein wirklicher Zeuge seines Herrn. Er tut, was Jesus tat. Er ist wirklich ein Zeuge des Himmels. Allen Grund hätte er, nach Rache und Vergeltung zu rufen: Aber Stephanus bittet um Versöhnung.

Ist das verrückt in einer Welt der Ellenbogen, der Gewalt? Vielleicht. Aber das „Verrückte“ führt oft weiter. Es bleibt nicht alles umsonst, vergeblich. In der Lesung steht der Satz: Die Verfolger legten ihre Kleider zu Füßen eines jungen Mannes nieder, der Saulus hieß. So wird er also zum ersten Mal genannt, Saulus, später Paulus, und er erscheint hier wie so eine Art fanatischer radikaler Islamist von heute, so eine Art Taliban. Die Taliban organisieren ja heutzutage noch Steinigungen: diese vermeintlichen Rechtgläubigen ohne Erbarmen. Wir ahnen, was Paulus später für eine Wandlung durchgemacht haben muss vom selbsternannten Henker zum Apostel der Völker. Das Sterben des Stephanus wird ihn „verfolgt“ haben, wird ihm in seine Träume gefolgt sein – ein Stein auf seinem Weg zur Umkehr. Denn das Blut der Märtyrer ist der Same für neue Christen, schreibt später ein Kirchenvater.

Das 20. und 21. Jahrhundert hat unzählige Märtyrer, viel mehr als sonst in der Geschichte. Ob sie das auch auszeichnet: der Himmelsblick, der Dienst an den Armen, der Verzicht auf Rache und Feindschaft, kurz: die Nachfolge Christi? Durch sie wird die Welt erkennen, dass Du, Gott, mich, den Sohn, gesandt hast?

Ein Märtyrer der letzten Jahre – ganz aktuell – ist der sizilianische Priester Don Pino Puglisi, der 2013 seliggesprochen wurde. Er war Pfarrer in Brancaccio, einem heruntergekommenen Stadtteil von Palermo in Sizilien. Wir damaligen Dechanten des Bistums haben seine Pfarrei vor gut zwanzig Jahren besucht und mit seinem Nachfolger gesprochen. 1993 war Don Pino von zwei Mafiakillern erschossen worden. Warum? Aus Glaubensgründen? Es waren Gründe der Gerechtigkeit, die sich aus dem Glauben ergeben. Weil er dort eine gute Sozial- und Jugendarbeit machte, die perspektivlosen, arbeitslosen Jugendlichen von der Straße holte und sie so dem Einfluss der Mafia entzog. Wir bekamen dort in Brancaccio den Erstkommunionunterricht mit. Don Pino hatte schon zu seinen Kommunionkindern gesagt: Ihr müsst euch entscheiden – Jesus oder die Mafia. Beides zusammen geht nicht! So etwas erklärte er im Beisein der Väter, die zum Teil selber Mafiosi waren, aber in die Kirche gingen. Die Mafia war sehr sauer auf ihn. Als die beiden Mörder kamen, sagte er lächelnd zu ihnen: Ich habe euch schon lange erwartet! Die Aussicht, getötet zu werden, hatte ihn nicht gelähmt und gebremst, hatte ihn nicht stumm gemacht.

Vielleicht ist das die Botschaft der Märtyrer auch heute: Ihr müsst euch entscheiden, wer der Herr eures Lebens ist. Gott – oder die Götzen, die Götzen der Macht, des Geldes, des Ehrgeizes. Auf sizilianisch: Jesus oder die Mafia! Entweder – oder: Beides zusammen geht nicht.