Frieden? Und wie…

Ökumenisches Friedensgebet Altena am 08.05.2022


Eine kleine Geschichte zu Beginn.

In biblischer Zeit fiel ein Mann in einen tiefen Brunnen, aus dem er selbst nicht herauskam. Viele Menschen liefen zusammen und riefen gute Wünsche und Ratschläge in die Tiefe des Brunnenschachts. Schließlich kam Jesus vorbei. Er sah den Mann und sprang in den Brunnen. Der Mann schaute Jesus verwundert an. „Und wie kommen wir beide jetzt hier heraus?“, fragte er. Jesus sah ihn an und sprach: „Das weiß ich auch nicht!“

Ich mag diese Geschichte. Und auch ihre Pointe: Das weiß ich auch nicht! Ein Jesus, ein Gott, der nicht alles weiß. Der nicht „perfekt“ ist. Und der uns auch darin nah ist.
Was die Ukraine angeht, sehen wir keine realistische Lösung. Alles scheint an Putin abzuprallen. Und da ist kein mächtiger Arm in Sicht, der uns – oder wichtiger noch: die Ukrainer – aus der schlimmen Lage befreit.
Aber immerhin ist Jesus in der Geschichte mit im Brunnenschacht. Er ist an der Seite des Abgestürzten. Er teilt sein Leiden – und sein Nichtwissen, seine Ohnmacht. Der Gekreuzigte teilt sogar die Dunkelheit des Todes.
Ob alle im Brunnenschacht, in den Schützengräben, in den Kellern und Tunnels von Mariupol auch die Aussicht auf Auferstehung mit ihm teilen können? Die Hoffnung, das Licht?

Wir sind in diesen Monaten des Kriegs sehr ratlos. Vielleicht auch darum, weil wir vorher meist sehr gedankenlos waren in Sachen Krieg und Frieden, sehr naiv. Wir lebten in einem bequemen Sicherheitsgefühl, unserem Land ging es sehr gut, dem Rest der Welt eher mangelhaft. Aber der Rest der Welt ist weit weg. Namen von kriegsgeplagten Ländern, wo man noch nie war: Ruanda – ein Völkermord. Oder der Jemen, oder Mali. Exotisch, außerhalb unserer wirklichen Wahrnehmung.

Aber manchmal rücken auch die verschwiegenen Kriegsschauplätze nah. Ein Freund aus Äthiopien stammt aus der heiligen Stadt Lalibela. Einer Stadt voller Kirchen, in den Felsen gehauen. Pilgerort, Weltkulturerbe. Ich war zweimal da. Die Stadt lebt vom Tourismus. Im äthiopischen Bürgerkrieg, von dem die Zeitungen nichts mehr berichten, überfielen die aufständischen Tigriner Lalibela. Sie wüteten dort etwa sechs Wochen. Ihr Plan war perfide: Sie zerstörten den Flughafen, Brücken, Hotels – d.h. die Lebensgrundlagen einer Touristen- und Pilgerstadt. Niemand kommt mehr. Die Einwohner wissen nicht, wovon sie leben – und überleben sollen.
Das sind die stillen Kriegsorte, von denen nicht mehr geredet wird, weil die Ukraine alles überlagert.

Kriege in meinem Leben: Ich bin Jahrgang 1949. Vier Jahre nach dem 2. Weltkrieg geboren. Manche Ruinen standen in meiner Kindheit noch. Die Mutter erzählte oft vom Krieg. Wir hörten ihr zu wie bei einem Krimi. Spannend - wie die Bomben fielen. Der Vater erzählte nichts. Die meisten Männer mit Fronterlebnissen haben eher geschwiegen. Deutschland war dann mit Wiederaufbau voll beschäftigt. Vieles wurde verdrängt, spukte herum nur im Keller der Alpträume, der Ängste und des Unterbewussten. Gelegentlich hob sich der Vorhang: die Auschwitzprozesse. Die Filme über Shoah und Holocaust. Dann der Vietnamkrieg. Unser Freund, die hochdemokratischen USA, warf Napalmbomben auf die „Schlitzaugen“. Die Grausamkeit dieses Krieges wurde per Fernsehen ins Haus geliefert, sie war unbeschreiblich.

In den aufgewühlten 80er Jahren waren die jungen Christen, katholisch wie evangelisch, meist der Friedensbewegung nah. Als Jugendkaplan beriet ich Kriegsdienstverweigerer. Wir unterschrieben alle: Frieden schaffen ohne Waffen. Der Pazifismus lag in der Luft. Pazifismus bedeutet eigentlich: Lieber möchte ich sterben, als dass ich andere töten muss. Eine sehr ehrenwerte Position! Aber sie bedeutet nicht: Eher sollen andere – etwa die Ukrainer – sterben, als dass sie sich mit Waffen wirksam wehren dürfen. Wir waren hochmoralisch, aber nur oberflächlich. Feindbilder waren immer präsent. Die Alten verabscheuten die Russen, die Jungen die Amerikaner mit ihrem wilden Dreinschlagen etwa im Irak. Die Bundeswehr galt als ziemlich überflüssig. Unser bequemes Harmoniebedürfnis sagte uns: Es lässt sich doch über alles reden, am Verhandlungstisch. Treiben wir Handel, dann lässt sich leichter verhandeln. Und der Westen – wir – sitzt dabei am längeren Hebel.

So kann man sich irren. „Es gibt seit der Vertreibung aus dem Paradies keinen Zustand ewigen Friedens“, sagt theologisch sehr korrekt Robert Habeck in der letzten Ausgabe der ZEIT. Er spricht aus, was das Wort Erbsünde sagen will.

Das Böse, das Diabolische, das Lebens- und Friedensverneinende ist da in der Welt. Auschwitz. Mariupol. Butscha. Die Ukrainer haben das Recht, sich zu wehren und zu verteidigen. Auch mit schweren Waffen von uns. Und wir haben angesichts dessen die Zeitenwende ausgerufen und liefern diese Waffen. Noch vor ein paar Monaten war es in unseren Kreisen klar, dass man keine Aktien kaufen und keine Geschäfte machen würde mit den Waffenschmieden, die alle als „unsauber“ galten. Da wollte man nichts mit zu tun haben. So verändern sich unsere Positionen, weil die Realität sich so verändert hat. Man darf das sicher auch mit großem Bedauern aussprechen.

Noch einmal die Anfangsgeschichte. Jesus ist mit im Brunnenschacht. Er steht an der Seite der Leidenden. Neben dem Mitmachen in der Realpolitik könnte das bedeuten:
- Den biblischen Sinn für Feindesliebe, für Versöhnung und Gewaltlosigkeit nicht aufzugeben.
- Das russische Volk als Ganzes nicht als Feind zu betrachten – Feind ist der Aggressor, der Diktator Putin.
- Die Flüchtlinge und Ukrainer in Not mit hohem Einsatz und aller Kraft zu unterstützen.
- Nachteile in der deutschen Wirtschaft, etwa höhere Preise und Kosten, auf sich zu nehmen.
- Jede Möglichkeit für Verhandlungen besonnen auszuloten und aufzugreifen.
- Nicht alle Brücken für die Zukunft abzubrechen.
- Weiter zu beten: Gott hoffnungsvoll zuzutrauen, dass er auf seine Weise den Frieden wachsen lässt.