Johannes Broxtermann - Predigten - Gedanken

Wer von euch ohne Sünde ist …

Predigt am 03.04.2022


Gerade noch, vor ein paar Stunden, hatte Jesus in den Straßen Jerusalems geredet. Von dem lebendigen Gott, der uns Menschen aufatmen lässt. Von einem Gott, der eher einem Arzt gleicht als einem Polizisten oder Staatsanwalt.

Am frühen Morgen ist Jesus dann im Tempel zu finden. Es gibt einen Menschenauflauf: Schriftgelehrte und Pharisäer führen eine Frau mit, zerren sie in die Mitte, alle sollen sie sehen. Aufgebracht sind sie, zu allem bereit, ihrer Sache ganz sicher: „Recht muss Recht bleiben! Und Unrecht muss bestraft werden!“ Ein zweiter: „Gottes Gnade wird heutzutage zu billig verschleudert. Viel zu viel wird zugelassen. Alles ist erlaubt!“ Ein dritter: „Wo kämen wir denn hin, wenn wir sowas durchgehen ließen? Das müssen wir jetzt durchziehen. Und der Jesus da kann uns nicht daran hindern!“

So schubsen sie die Frau herum, zerren sie weiter. Sie haben sich unterwegs gebückt und Steine aufgehoben, und nun schließen sie ihre Hände fest darum, denn ihr Vorhaben ist eindeutig: Die Frau wurde beim Ehebruch in flagranti erwischt, und darauf steht nach dem Gesetz des Mose die Todesstrafe. Durch Steinigung, heute noch in manchen arabischen Ländern üblich. Ein brutaler, barbarischer Akt.
Interessant, dass der Mann, der ja wohl beim Ehebruch auch beteiligt war, nicht behelligt wird. Die Strafe trifft mit ihrer ganzen Wucht nur das weibliche Geschlecht.

Hundert Augenpaare richten sich nun auf diese Frau. Der Tempelhof wird zum Gerichtssaal. Die Menge fiebert geradezu: Ein Skandal! Eine Sensation! Die Spannung steigt. Das Mitleid hält sich in Grenzen.
Hundert Augenpaare richten sich auch auf Jesus. Der sitzt jetzt sozusagen in der Falle. Auf welche Seite schlägt er sich? Was gilt denn nun? Die alten Worte des Mose? Oder die neuen Worte Jesu? Die Tradition und die Gesetze, die unsere Gesellschaft zusammenhalten? Oder die Gnade, die wir alle zum Leben brauchen? Die Kultur, in der die Männer alle Rechte haben und die Frauen nur Pflichten? Oder die Würde einer einzelnen Frau, die allerdings das Recht verletzt hat?

Hundert Augenpaare richten sich auf Jesus. Und Jesus geht in die Knie, taucht ab; er schreibt mit dem Finger in den Sand. Was er schreibt, ist nicht zu erkennen. Wenn man doch wüsste, was er da geschrieben hat! Später hat ein Heiliger das so ausgedrückt: Jesus hat unsere Sünden nicht in Stein gemeißelt, sondern in den Sand geschrieben – in den Sand, der verweht.
Angespannte Stille – alle warten auf eine Antwort. Ein klares Wort, das sagt, was gilt. Doch Jesus schweigt. Er sorgt für eine Unterbrechung. Aber die Männer, die Schriftgelehrten mit den langen Bärten, lassen nicht locker. Sie wollen, dass Jesus das Todesurteil mitträgt. Tut er es aber nicht, dann haben sie weitere Gründe, um ihn aus dem Verkehr ziehen zu können – diesen Jesus mit seiner ärgerlichen, unmöglichen Barmherzigkeit.

„Nun, was sagst du?“ Hundert Ohrenpaare erwarten endlich eine Antwort. Und die kommt jetzt und wird später zu einem geflügelten Wort, ja wirklich zu einem Wort mit Flügeln: „Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein!“
Das hat gesessen!

Hundert Augenpaare richten sich nach innen. Und ich? Darf ich? Kann ich? Will ich? Sofort meldet sich die lange Liste aus eigener Schuld und eigenem Unvermögen. Die kleinen und großen Gaunereien des Alltags. Die Kränkungen vieler Jahre, die einen hart gemacht haben und unempfindlich – sodass man zum Zuschauer des Elends der anderen wird und sich an deren Scheitern so richtig berauschen kann. Alles höchst aktuell!

Wer bin ich, dass ich mich zum Richter aufschwinge über Anstand und Moral und Gottes Wege? Wer bin ich? Auch ein Sünder! Auch einer mit den schwarzen Flecken auf der weißen Weste.

Und die Hände der Frommen lockern sich, die Steine werden losgelassen und fallen wieder auf die Erde, niemand wirft den ersten oder zweiten oder dritten Stein. Niemand steinigt. Einer nach dem anderen schleicht davon, vielleicht mit gesenktem Blick, aber mit freien Händen und leichten Schultern. Zuerst die Ältesten, die damals ja besonders das Sagen hatten. „Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein!“
Gespenstische Stille - wo sonst das laute Geschrei der Händler und der Menge zu hören ist im Tempelhof. Ein langer Moment des Nachdenkens, der Besinnung, der Umkehr. Gerade im Tempel, wo seit ewigen Zeiten Menschen die Lasten ihres Lebens loswerden und neu beginnen wollen. Da gehen auf einmal Türen auf, innere Türen, selbst bei Pharisäern.
Jesus ist hier der Türöffner.

Schuld darf Schuld bleiben. Versagen darf sein. Und Schuld darf ans Licht, ohne dass andere Steine hinterherwerfen. Und alles darf und kann losgelassen werden. Das eigene Versagen und auch der Versuch, vom eigenen Scheitern abzulenken, indem man es auf andere wirft.

Und die Frau? Jesus sieht sie in ihrer Schuld, mit ihrer Not; er nimmt das Versagen ernst – und traut ihr doch ein anderes Leben zu. „Geh und sündige von jetzt an nicht mehr!“ Er öffnet, er befreit, er führt heraus. Er führt sie zu sich selbst – und zu Gott.

Für viele ist dieses Evangelium ein Lieblingstext. Für mich auch. Ich höre es in der Gemeinschaft der Sünder, in der Kirche der Sünder – in der sich die Brüder und Schwestern hoffentlich nicht mit Steinen und bösen Worten bewerfen, sondern umkehren – sich ertragen und sich stützen und fördern auf dem Weg zum barmherzigen Gott.