Johannes Broxtermann - Predigten - Gedanken

Die verlorenen und wiedergefundenen Söhne

Predigt am 27.03.2022


Wie könnte diese Geschichte weitergegangen sein, nach dem Fest? Ich stelle mir den späten Abend vor: das Mastkalb ist gegessen, die Gäste sind weg, der Vater ist zu Bett gegangen. Nun können sich die beiden ungleichen Brüder, die sich während des Festes aus dem Weg gehen konnten, nicht länger ausweichen. Nehmen wir den günstigsten Fall an: Sie beschimpfen sich nicht gegenseitig: Du Versager! Schande für die Familie! – oder: Du Pharisäer! Du Moralapostel! Das Fest hat gewirkt, der Wein löst die Zunge, und es kommt tatsächlich zum Gespräch:

Warum bist du weggegangen, fragt der Ältere, der immer zuhause blieb. Dem Vater hat es fast das Herz gebrochen. Niemand macht so etwas bei uns. Du kennst doch den Familiensinn unseres Volkes. Wir bleiben zusammen und stehen füreinander ein!

Ja, so ist das normalerweise, sagt der Jüngere. Aber versteh mich: Es wurde mir so eng im gemachten Nest! Ich hatte das Gefühl, als würde mir die Decke auf den Kopf fallen. Ich war jung. Ich wollte frei sein, selbstständig, mein Leben erproben. Ich musste raus. Musste mein Leben selbst in die Hand nehmen.

Und – ist dir das gelungen?

Muss denn immer alles gelingen? Muss alles Erfolg haben? Darf es denn kein Scheitern geben? Ich habe die Freiheit geschmeckt, und das war das Gute daran!

Aber das ist riskant, entgegnet der Ältere. Wirklich ein Riesenrisiko! Ich wäre dazu nicht bereit. Ich gehe lieber auf Nummer Sicher. Und reden wir nicht drumherum: Bei dir ist es ja gründlich schiefgegangen.

Ja, vieles ist mir schiefgegangen, räumt der Jüngere ein. Das Ausland ist mir nicht gut bekommen. Was ich geerbt habe, zerrann mir unter den Händen. Mit meinem Geld wollte ich Freunde gewinnen, Ansehen bekommen, ja sogar Liebe erkaufen. Ich hungerte nach neuen Beziehungen. Die alten Familienbande waren ja passé. Aber als ich pleite war, waren auch die Freunde weg. Das war das Schlimmste: so isoliert zu sein, abgeschnitten vom Leben. Asozial. Ich war ganz unten – bei den Schweinen habe ich gehaust. Ist das noch Leben? Man atmet noch, man vegetiert vor sich hin – und ist im Grunde doch schon tot! Ich weiß, wie sich das anfühlt!

Du bist also fast vor die Hunde gegangen, aber irgendwie höre ich so etwas wie Stolz heraus aus deinen Worten, meint der Ältere. Du scheinst noch zu deinem Weg zu stehen!

Ich konnte nicht anders, sagt der Jüngere. Die Kindheit war schon ein kleines Paradies. Aber ich musste sie verlassen. Ich musste mich abnabeln, um meinen Weg zu finden. Meinen eigenen Weg. Mein eigenes Leben. Aber du hast recht: Ich musste den Preis dafür zahlen.

Ist der Preis nicht zu hoch für dich, fragt der Ältere zurück. So ganz unten, so verloren wie du warst – das ist doch nur schrecklich!

Ja, sagt der Jüngere. Wirklich, es war schrecklich. Von meinen Krisen könnte ich dir die ganze Nacht erzählen. Wie habe ich bloß von der Freiheit gedacht: tun und lassen, wozu ich Lust habe? Ich gehörte nirgendwohin, nirgendwo mehr dazu! Aber so habe ich das Heimweh gelernt, das ich sonst nicht kennen würde. Erst in der Fremde weiß man wieder die Heimat zu schätzen. Das Heimweh nach dem Vater, nach euch allen! Als ich ganz unten war, in der Hungersnot, dachte ich neu an den Vater. Ich fühlte mit ganzem Herzen, wie gut er immer zu uns gewesen war, selbstverständlich und ohne große Worte. Diese Erinnerung ist immer mit mir gegangen, sie war nie ganz verschüttet. Ich fühlte mich schuldig ihm gegenüber. Und ich begriff, dass ich noch nicht verloren war. Ich, der „verlorene Sohn“, hatte noch eine Chance. Vielleicht gehörte ich doch noch dazu. Und dann habe ich mich auf den Weg gemacht und bin umgekehrt. Das war schwer. Ich schämte mich so! Ich malte mir auch aus, der Vater würde mich nicht reinlassen. Aber ich ging weiter – trotz allem! Und wie es ausging, hast du ja mitgekriegt. Der Vater ist mir entgegengerannt! Die Arme des Vaters, so weit geöffnet! Da habe ich erfahren, wie geduldig die Liebe ist – er hatte so lange gewartet! Und wie grenzenlos sie sein kann. Aber ich sehe dir immer noch an, dass dir das alles nicht ins Konzept passt!

Der Vater mag mit dir tun, was er für richtig hält, sagt der Ältere, Verbitterung im Herzen und in der Stimme. Mir hat er nie ein Freudenfest spendiert. Ich habe zuhause treu und brav meine Pflicht getan, tagaus, tagein. Die Pflichten des Erstgeborenen. Ich brannte nie darauf, wegzugehen und mich ins Abenteuer zu stürzen. Lieber bleibe ich, wo ich bin. Aber da sehe ich mich dann gründlich um. Und so habe ich mich auf den Dachböden, in den Kellern und Scheunen unseres Hofes gründlich umgesehen, die hintersten Winkel durchforscht und bin auf wahre Schätze der Vergangenheit gestoßen, die hier schlummerten – Schätze und Geheimnisse! Man kann auch hier so viel entdecken! Und nun bin ich dabei, wieder zu entdecken, dass du – mein Bruder bist! Lass uns versuchen, dieses Haus des Vaters wieder gemeinsam zu bewohnen.“


Lassen wir das Gespräch der Brüder her enden. Die Brüderpaare in der Bibel haben es nicht leicht miteinander – Kain und Abel, Jakob und Esau, so viel Rivalität. Aber jetzt ist die Zeit der Brüder und Schwestern! Der Vater – Gott – hat seine Liebe gezeigt, er bietet uns sein Erbe an, er lässt sein Reich in unserer Mitte beginnen. Seine ausgebreiteten Arme sind die Arme Jesu Christi, ausgebreitet am Kreuz. Aber sein Reich muss auch von uns angenommen, aufgegriffen und gelebt werden. Wenn der Vater so gut ist, wie werden dann die Söhne sein? Färbt die Güte des Vaters ab? Färbt Gottes Liebe ab auf uns? Oder werden sich die Brüder das Leben im gemeinsamen Haus zur Hölle machen? Jetzt ist die Zeit der Brüder und Schwestern, die im Haus desselben Vaters – der Kirche – das Gespräch versuchen und z.B. synodale Wege gehen, obwohl sie so unterschiedlich sind. Der Jüngere, der die Freiheit suchte und sich in ihr verlor, und der Ältere, der die Freiheit vermied und nicht brauchte.

Jetzt ist es wichtig, dass das Haus – die Kirche – wirklich den Geist des Vaters atmet, und dass seine Türen so offen sind wie die Arme des Vaters. Die Brüder haben fürwahr ein großes Erbe. Der eine – der Ältere – kann erzählen, welche Schätze der Tradition er im Haus gefunden hat. Und der andere, der Jüngere, kann vom Leben draußen erzählen, von der Welt, von der Suche, von seinen Wegen weg und zurück. Und beide können und werden erzählen vom Vater. Von einer Liebe, die beide umgibt – ob sie es spüren oder nicht. Von einer Liebe, die sagt: Du bist ein Bruder – lebe das! Du bist eine Schwester – lebe das! Von einer Liebe, ohne die es im Haus sehr kalt würde. Von einer Liebe, von der wir alle leben.