Johannes Broxtermann - Predigten - Gedanken

Auferstehungsfeier Ricarda von dem Bussche - 43

Predigt am 19.03.2022


Der Tod ist mir nicht unvertraut.
Der Satz könnte von Ricarda stammen. Aber es ist der Titel eines gerade erschienenen Buches. Geschrieben hat es Elke Büdenbender, die Frau unseres Bundespräsidenten. Sie führt da ein Gespräch mit einem befreundeten Mediziner, Eckhard Nagel. Lesend dachte ich: Gespräch – das ist wirklich die beste und passendste Form, um sich über das Sterben und den Tod zu äußern, um in einen Austausch zu kommen. Ich erlebte es selber in meinem Treffen mit Ricardas Bruder Gabriel. Ja, sprechen Sie mit anderen Ihnen nahen Menschen über den Tod, auch über diesen Tod – und über die existentiellen Fragen, die „auf Leben und Tod“ gehen. Scheuen Sie sich nicht, – auch wenn solches Reden nicht zu unseren Alltagsübungen zählt.

Der Tod ist mir nicht unvertraut. Ein Satz von Ricarda? Ricarda war 43, als sie starb. Das ist sicher die erste Reaktion: das Erschrecken. Elke Büdenbender deutet es an (S. 82): „Wenn eine junge Frau, eine junge Mutter stirbt, müsste die Welt eigentlich stehen bleiben. Sie müsste stehen bleiben, weil das diesem furchtbaren Verlust angemessen wäre. Doch die Welt dreht sich weiter. Natürlich tut sie das.“

Ja, die Welt lässt sich vom Tod einer jungen Frau nicht aufhalten. Sie dreht sich weiter und zeigt uns jetzt tausendfaches Sterben im Krieg: auch junge Väter, junge Mütter. Aufs Alter wird keine Rücksicht genommen.
Aber wir hier wollen innehalten, anhalten, Stopp sagen: in dieser Stunde, an diesem Tag. Wir wollen uns jetzt nicht mitdrehen, sondern die Stille des Todes aushalten. Dieses Stillstehen, diese Ruhe, diese Unterbrechung! Und wir wollen und können dies tun, weil es uns in aller Trauer und allem Erschrecken ganz tief mit Ricarda verbindet – mit ihrem Zugehen auf den Tod.

In Wahrheit: Der Tod war Ricarda nicht unvertraut. Was Gabriel von ihrer Krankheit und ihrem Sterben erzählte, hat mich tief berührt und beeindruckt.
Sie hat sich demnach mit dem Tod nicht nur abgefunden, sondern fast „angefreundet“. Bruder Tod, singt Franz von Assisi in seinem berühmten Sonnengesang. Bruder Tod – er „gehört sozusagen zur Familie“. Er gehört jedenfalls zum Leben. Man kann ihn sicher aus guten Gründen auch als den Feind sehen, den man mit aller Entschie-denheit bekämpfen muss, – als den brutalen Räuber, der das Wichtigste: das Leben raubt. Ich kann jede Todesangst gut verstehen. Aber von dieser franziskanischen-ricardianischen Haltung bin ich tief bewegt: Bruder Tod.

In vergangenen Zeiten, besonders im Mittelalter, bemühten sich viele, die ars moriendi zu erlernen, die Kunst des guten Sterbens. Der schnelle plötzliche Tod wird heute von den meisten erhofft und erwünscht, aber er war damals eher ein Schreckgespenst: Die Menschen wollten sich vorbereiten können, indem sie die Rituale des Glaubens erlebten, ihre innere Haltung zum Tod klärten und von ihrer Familie A-schied nehmen konnten. Sterben und dabei umgeben sein von den geliebten Menschen – das war Ricarda vergönnt.

Die innere Haltung zum Tod: Ricarda hat sich wohl zeitlebens mit dem Tod beschäftigt. Was viele andere verdrängen, hat sie geistig aufgesucht. Als Jugendliche hat sie Tage und Wochen am Krankenbett einer Verwandten verbracht. Ihr war – gerade auch auf den Tod hin – eine religiöse und spirituelle Suche zu eigen – die Vorstellung, dass wir in ein größeres Ganzes eingebunden sind, das viele unter uns „Gott“ nennen. Das Vertrauen: Ich bin begleitet, ich bin gut aufgehoben. Ich bin gehalten. Mit den Worten der Bibel: Der Herr ist mein Hirte. Oder, wie gerade im Evangelium: Ich bin die Auferstehung und das Leben.

Ricarda verbrachte ihre letzten Wochen im Hospiz in Offenbach in großer Geborgenheit und liebevoller Unterstützung durch die Familie. Sie hatte dort im Hospiz eine Art „Hausaltar“ gestaltet, den sie immer wieder anschaute. Viele Fotos, viele Symbole. Bunt, farbig. In der Mitte eine Marienfigur; die Mutter Gottes hatte für sie eine besondere Bedeutung. Also: Vieles, was ihr heilig war. Wenn sie dort hinschaute, war der Reichtum ihres Lebens versammelt. Und den betrachtete sie dankbar. Nicht die Klage lag ihr auf der Zunge, sondern die Dankbarkeit. Ja, wie Gabriel es gerade benannt hat: auch die Freude, die Fröhlichkeit, der Humor und das Lachen. Erstaunlich und wunderbar: auf dem Sterbebett noch lachen zu können!
Ricarda war in der ars moriendi offensichtlich sehr weit fortgeschritten, mit großer innerer Stärke.

Die Lehrmeister dieser Kunst haben, glaube ich, einen Doppelblick. Sie schauen mit Zuversicht „nach vorn“, über die Todesgrenze hinaus, ins Ewige, in Richtung Gott, und sie schauen mit Dankbarkeit und Zustimmung zurück – auf ihr Leben, das zu Ende geht. Sie nehmen die Vergänglichkeit an im Gespür, dass sie das Wesentliche, den „springenden Punkt“ des Lebens, erlebt und nicht verpasst haben.

Ricarda hat sehr, sehr intensiv gelebt, mit einigem Tempo. In 43 Jahre sind untergebracht das Familienleben in Schloss Neuenhof, Schule und Studium, die berufliche Tätigkeit in Verlagen und Fernsehproduktionen, Beiträge zum kulturellen Leben, Reisen und Aufenthalte z.B. in Lateinamerika, die Suche nach neuen Orten und Existenzweisen – z.B. „in der Wildnis zu leben“, wie Gabriel sagte. Da musste ich an den genialen Film „Der Club der toten Dichter“ denken und darin an das Zitat des genialen Lehrers: „Ich ging in die Wälder, das Mark des Lebens in mich aufzusaugen, um alles auszurotten, was nicht Leben war. Damit ich nicht in der Todesstunde inne würde, dass ich gar nicht gelebt hatte.“- Diese Gefahr bestand bei Ricarda nicht! Sie kannte die Suche, die wie ein Motor des Lebens ist. „Unruhig ist unser Herz,“ sagt der hl. Augustinus. Zwei Ehen, großer Kinderwunsch, dann das Kind, der dreijährige Theodor. Theodor heißt „Gottes Geschenk“. „Sie hat diesem Kind so viel Liebe gegeben, dass es für das ganze Leben reichen könnte,“ heißt es in der Familie. „Der springende Punkt des Lebens“ war da, aber es fehlte die Zeit, alles reifen und sich entfalten zu lassen, es zu genießen, in vielen weiteren Jahren.

Nicht die Menge der Jahre entscheidet über den Sinn des Lebens. Ricarda – 43 Jahre. Jesus – 33 Jahre. Und darin hat er alles gezeigt und alles gegeben – und Ricarda wohl auch.

Ein Schlussbild für uns: Am Abend nach Ricardas Tod gingen die Angehörigen im Schlosspark von Neuenhof an die frische Luft. Sehr unüblich für diese Jahreszeit setzte sich ein bunter, wunderschöner Schmetterling aufs Fensterbrett. Er kam ihnen vor wie ein Botschafter, der die Botschaft vom Leben überbringt. Ein Schmetterling, der vorher eine Raupe war, ganz am Boden, aufs Fressen gerichtet, und der dann in einer der staunenswerten Metamorphosen des Daseins zum Schmetterling wird, ganz aufs Fliegen gerichtet.

Ja, was wird mit uns werden? Welche Verwandlung hat Ricarda gefunden?