Johannes Broxtermann - Predigten - Gedanken

Gabriele Weiß - „Sie hat sich verduftet…“

Predigt am 04.03.2022


Lieber Günther, liebe Familie Weiß und Kresse, liebe Gemeinde zwischen Trauer und Hoffnung,

Gabi, Günther und ich, wir sind gleichaltrig, fast derselbe Jahrgang. Und wir haben eine ähnliche Prägung mitbekommen in der katholischen Jugend der 60er und 70er Jahre. Wir waren z.B. begeistert von den Texten des Krefelder Priesters und Dichters Wilhelm Willms, der zusammen mit dem Musiker Peter Janssens ein Musical geschrieben hatte: Ave Eva. Das ging um Maria und war voll von ungewohnten, einprägsamen Bildern. Maria wird ja oft bildlich mit Blumen verbunden: Rose ohne Dornen, oder Lilie ohnegleichen. Das tut Willms auch in seinem Musical. Als Maria starb, da war – so erzählt er eine alte Legende nach – da war das Grab ein Blumenbeet, das duftete nach Blumen, die es auf der Erde nicht gab. Und jetzt kommt das entscheidende Bild: Sie hat sich verduftet, die schönste Blume auf dem Feld der Welt. Sie hat sich verduftet, Maria, sie liegt in der Luft und nicht in der Gruft.

Das ist ein schönes Wortspiel: Sie hat sich verduftet. Wir sagen das ja in der Umgangssprache, wenn einer sich heimlich fortschleicht, wenn jemand sich aus dem Staub macht, abhaut. Das ist die eine Bedeutung. Und die andere, wörtlichere: Maria ist wie eine herrlich duftende Blume, ihr Duft bleibt noch lange Zeit, er – oder sie – liegt weiter in der Luft.

Vielleicht kann jeder Ehemann, der seine Frau nach guter glücklicher Ehe verliert, das so mitsprechen: Sie ist von uns gegangen. Aber zuvor, in ihrem Leben und in ihrem Sterben, hat sie sich verströmt, hat alles Gute ihres Wesens, alle Liebe und alle ihre guten Kräfte „verduftet“, verströmt, in die Atmosphäre zuhause oder in der Schule oder in der Gemeinde hineingegeben. Wie ein Wohlgeruch, ein Duft, der weiter in der Luft liegt.

Das ist hoch poetisch. Günther, du hast mich auf dieses Wort gebracht. Und ich war etwas überrascht, denn eigentlich neigt ihr nicht dazu, so „durch die Blume“ zu sprechen. Ihr seid eher nüchterne Leute: wie man sich Physiker – wie Dich – und eine Mathematikerin – wie Gabi – eben so vorstellt. Fakten zählen, Tatsachen. Und darum schiebe ich jetzt einen nüchternen, faktischen Teil ein, die biografische Übersicht von Gabis Leben.

Gabi kam aus Düsseldorf, erstes von drei Kindern, 1950 geboren. Urkatholische Familie, mit eigenem Haus in Hochdahl bei Erkrath. Gute, ehrgeizige Schülerin, sehr begabt in Mathematik, hat das nach dem Abitur 1969 auch in Bochum studiert, zusammen mit Geographie. Als Eigenschaften werden sichtbar: zielgerichtet, diszipliniert, sachlich, rational, effizient – was alles Herzlichkeit und Humor nicht ausschließt. Und die Liebe: 1967 kommt Günther ins Spiel, bei einem Tanzkurs, er ist eine Klasse drunter, schaut sozusagen auf, es ist Liebe „auf den ersten Blick“ – und es bleibt Liebe „bis auf den letzten Blick“ – und darüber hinaus.

Die beiden studieren in Bochum, heiraten 1973, einige Jahre Schuldienst folgen für Gabi, und dann kommen die drei Kinder Nikola, Manuel und Raphaela. Als Mutter ist es ihr wichtig, die Kinder „auf die eigenen Füße zu stellen“, in Richtung Selbstständigkeit. Nach Jahren in Bochum gibt es – berufsbedingt – ein Intermezzo von acht Jahren, 1983 bis 1991 im äußersten Süden Deutschlands, an der Schweizer Grenze, in Weil am Rhein. 1991 dann die letzte und bleibende Lebensstation: Lüdenscheid. Das schöne Haus in Stüttinghausen. Für Gabi, die inzwischen auch Religion unterrichtet, beginnt wieder der Schuldienst: zwei Jahre, kurz und schmerzhaft, in einer Hauptschule, dann 23 erfüllte Jahre in der Theodor-Heuss-Realschule. Eine angesehene Lehrerin. Ich bewundere sie, dass sie sich jeden Mittag zu Fuß auf den Heimweg nach Stüttinghausen macht, eine gute Stunde Weg, die sie nach meinem Effizienzdenken lesend oder sonst wie hätte verbringen können. Aber sie braucht viel Bewegung, viel Leben. Und so reist sie auch gern, immer gut vorbereitet, sie ist Weltbürgerin und kennt Länder wie Äthiopien, Neuseeland, Sibirien, Chile oder Südafrika, – Länder, die nicht gerade im Mainstream liegen. Vor ausländischen Gästen hat sie keine Scheu; mehrfach bietet sie Austauschschülerinnen aus anderen Ländern ein offenes gastliches Haus.

Als Pastor habe ich natürlich auch ihre Mitarbeit in der Gemeinde im Blick. Günther und sie sind beide Lektoren, und Gabi hat eine kräftige, klare artikulierte Stimme, die bis in den letzten Winkel der Kirche dringt. Beide sind aktiv in einem Familienkreis, der viel unternimmt, und in der Gruppe 58plus. Während Günther in Gremien wie dem PGR wirkt, ist Gabi eher an Projekten dran: früher Vorbereitung der Kommunionkinder, dann Eine-Welt-Arbeit – Stichwort Guatemala –, KFD und schließlich – in ziemlich kritischer Haltung – bei den Plänen zur Pfarreientwicklung. Ein Leben ohne Kirche geht für sie nicht.

Und das auch nicht in den letzten Monaten der Krankheit. Ihr habt sie da nicht versteckt – die Gabi, die immer mehr abbaut. Die Gabi im Rollstuhl. Die Gabi, die allen Bekannten die Vergänglichkeit des Lebens vor Augen führt. Da war ein großes Erschrecken bei den Leuten: Was ist los mit Gabi? Bis dann die letzte Diagnose dem Leiden einen Namen gab: Creutzfeld-Jakob, eine höchst seltene Krankheit, die schnell zum Tode führt. Ihr habt sie nicht versteckt, auch nicht vor der Gemeinde. Sie blieb mittendrin, sie blieb verbunden, und sie hat uns alle gelehrt, dass man die Schwäche und das Leiden nicht verbergen muss. Dass es keine Schande ist, sehr krank zu sein. Und dass die Kranken vor Gott und zu Gott gebracht werden können, weil sie seinem Herzen besonders nah sind.

Zu dem Erschrecken kam bei mir ein noch größeres Erstaunen. Gabi spürte die Zerstörungskraft ihrer Krankheit. Aber sie war nie verzweifelt oder depressiv oder wütend. Sie wirkte ausgeglichen – fast froh – und nahm die Dinge hin. Wirkt so das Gottvertrauen? In einer ihrer letzten Messen kam von ihr ein Ruf bei der Wandlung. Bei den Worten: Mein Leib – hingegeben für euch.

Und da muss ich jetzt wieder an das blumige Bild vom „Verduften“ denken. Wie ein Mensch sich „verströmt“ und die Atmosphäre prägt – etwa durch seine Art, mit dem Leiden umzugehen. Durch sein Vertrauen. Jesus ist das große erlösende Modell der Hingabe. Gabi hat‘s auch versucht, auf ihre Weise. Und wir alle haben es noch vor uns, in der „finsteren Schlucht“ (Ps. 23), im Abgrund nicht ins Bodenlose zu stürzen, sondern aufzusteigen, Gott entgegen.