Johannes Broxtermann - Predigten - Gedanken

Ziemlich verrückt: Feindesliebe ...

Predigt am 20.02.2022


Stellen Sie sich einen Vater vor, der seinem Kind auf dem Schulhof sagt: Wenn dich hier einer auf die eine Wange schlägt, dann halt ihm noch die andere hin! Als Zeuge dieser Szene würde man wahrscheinlich das Jugendamt anrufen.

Ja, das klingt ziemlich verrückt: Die andere Wange hinhalten. Den Feind lieben. Es ist so richtig steil, was Jesus da sagt: Liebt eure Feinde! Kaum einer sonst ist auf diesen Gedanken gekommen. Erst denkt man: Absurd! Wenn man aber länger drüber nachdenkt und in die Welt hineinschaut, dann wird die Geschichte spannend, dann fängt sie an zu leuchten.

Erste Frage: Was heißt da „lieben“? Jesus erwartet sicher nicht, dass man dem Feind gegenüber warme Gefühle hegt und ihm um den Hals fällt. So nah muss man nicht an ihn ran! Ein Sicherheitsabstand ist gar nicht verkehrt. Ein Abstand, um klar denken zu können. Und dann richtig, im Sinne Jesu zu entscheiden. Den Feind lieben, das heißt nachdenken: Wie kann man sich wieder „entfeinden“? Was kann ich tun, um die Feindschaft nicht höher zu treiben, sondern zu entschärfen? Fragen, die Gott sei Dank die Politiker und Diplomaten bewegen, um z.B. den Ukrainekonflikt zu lösen. Sich hineindenken in den Kopf von Putin: Was treibt ihn um, wovor hat er Angst? Kann man ihn ein Stück weit verstehen?

In Konflikten denke ich manchmal: Wir sitzen alle im selben Boot, im Boot der Schuld. Keiner kriegt sein Leben so hundertprozentig richtig hin. Eine Nonne, die im Frauengefängnis arbeitet, drückt das im Blick auf die Häftlinge so aus: „Ich bin nicht anders! Ich hatte es nur anders!“ In Auschwitz sagte ein jüdischer Überlebender zu einem Touristen aus den USA: „Auch du wärest vielleicht zu diesen Taten fähig, wenn Du damals im Nazi-Deutschland aufgewachsen wärest!“

In diesen Monaten ist der Missbrauchsskandal in unserer Kirche wieder sehr im Blick. Zu Recht werden die schlimmen Taten mancher Priester angeprangert. Ich gestehe: ich kenne einige von ihnen gut, vom Studium her. Sie waren und sind keine Monster. Ich sehe sie weiter als Mitbrüder – aber als solche mit einer sehr dunklen Seite, mit einer verhängnisvollen Neigung, mit der sie junge Menschen zum Teil schwer geschädigt haben. Das, was sie getan haben, ist schlimm. Aber ich möchte sie nicht nur der öffentlichen Empörung überlassen, sondern auch dem göttlichen Erbarmen. In aller Demut können wir uns der vorhin zitierten Nonne anschließen: Ich bin nicht anders – ich hatte es nur anders! Eine günstigere Veranlagung vielleicht, ein anderes Umfeld, viele kleine Ursachen, die den einen aus der Spur werfen und den anderen in der Spur lassen. Ja, wir sind alle Teil einer Kirche, die nicht nur heilig, sondern auch sündig ist. Einer Kirche, die nicht aus eigener Kraft leuchtet, sondern nur, wenn sie sich dem Licht Gottes aussetzt – dem Licht seiner Barmherzigkeit. Ich meine, der demütige Blick auf uns selber und die Hoffnung auf göttliche und menschliche Barmherzigkeit können helfen, die Feindschaft unter Menschen zu entschärfen.

Liebet eure Feinde. Das könnte man übersetzen: Zügelt eure Aggression. Das ist eine Grundkraft in uns. Jeder hat sie – aber meistens unter der Decke. Heute ist sie oft kaum zu stoppen – in den Hassbotschaften im Internet, oder als direkte körperliche Gewalt. Gewalt schaukelt sich hoch, wie eine Spirale. Dem Schlag folgt der Gegenschlag. Aus kleinen Anlässen entsteht großer Familienkrach oder eine zerstrittene Nachbarschaft. Lässt sich das unterbrechen?

Ja, sagt Jesus. Halte dem Schläger noch die andere Wange hin! Diese verrückte unerwartete Geste unterbricht den Schlagabtausch: Du schlägst mich, ich schlag dich! Statt neuer Schläge – Gewaltlosigkeit! Der Schläger wird vielleicht sehr verdutzt und überrascht gucken. Der mit der Wange zeigt an: Ich mache dieses Spiel nicht mehr mit! Ich steige aus!

Das kann in großem Stil funktionieren. Der berühmte Inder Mahatma Gandhi hat auf diese Weise – gewaltlos – sein Land Indien in die Unabhängigkeit geführt. Dazu gehört eine enorme innere Stärke. Und dazu gehört eine Riesenportion Gottvertrauen!

Selig die Friedensstifter, sagt Jesus. Selig, die sich an die eingefahrenen Feindschaften und Konflikte nicht gewöhnen wollen. Ich bin schwer beeindruckt von einem Schweizer Koch, David Höner, den ich in den letzten Jahren kennenlernen durfte. Er hat den Verein „Küchen ohne Grenzen“ gegründet und glaubt, in guter christlicher Tradition, dass das Essen, das gemeinsame Mahl, zum Frieden beiträgt. Wenn Menschen zusammen essen, werden sie sich nicht so leicht in den Rücken fallen! So wurden in einem Dutzend verschiedener Länder mit starken inneren Konflikten Restaurants aufgebaut – eben „Küchen ohne Grenzen“. Da treffen sich Israelis und Araber, oder Ukrainer und Russen, oder Flüchtlinge und Einheimische. Und sie essen miteinander, reden miteinander und merken sehr schnell, dass das Miteinander schöner und menschlicher ist als das Gegeneinander. Das Fernsehen begleitete David Höner auf einer Flussfahrt über den Rio Napo, einen Nebenfluss des Amazonas. Dort hat er auf einem Schiff eine Kochschule aufgebaut, in der indianische Männer und Frauen qualifiziert kochen lernen können – für gastronomische Berufe. In dem Film wurde gezeigt, wie die Angehörigen eines Stammes die Leute eines anderen Stammes aufs Schiff zum Essen einluden, mit dem sie seit ewigen Zeiten verfeindet sind – den Grund für die Feindschaft weiß niemand mehr so recht. David sagte mir: „Die Vorurteile sind jetzt weg, die der Feindschaft Nahrung geben. De Leute merken zum ersten Mal, dass die anderen normale Menschen sind – und keine Bestien!“

So, liebe Christen, kann das Evangelium von der Feindesliebe seinen Weg auch über eine Küche finden.