Erhebt eure Häupter

Predigt am 28.11.2021

Religionsunterricht im 4. Schuljahr – es ist schon lange her. Thema ist das Ende der Welt. Zugegeben kein Lieblingsthema für Prediger, Lehrer und Schüler! Der Lehrer gibt sich alle Mühe, das Evangelium vom Weltuntergang eindringlich zu schildern. Zum Schluss meldet sich ein Schüler; „Ich wollte nur wissen, ob wir an dem Tag schulfrei haben!“
Ja, so sind wir Menschen. Wir wollen das Unbekannte, das Fremde und Überraschende einordnen können in unser vertrautes Leben hinein. Eben: Schulfrei beim Weltuntergang. Oder: Wird die Rente noch weitergezahlt? Haben die Behörden und Kirchen geschlossen? Putzen wir uns dann noch die Zähne?
Aber lösen wir uns mal von den kosmischen Katastrophenbildern – „Die Sterne werden vom Himmel fallen!“ – und achten auf das, was sich im Herzen der Menschen abspielt.
„Die Menschen werden vor Angst vergehen!“ Das heißt: Die Angst beherrscht uns ganz und gar. Da ist nur noch Angst. Nichts sonst – auch kein helfender Gott!

Im Krieg haben viele das erlebt. Angst vor Bomben, vor Zerstörungen, vor schlimmen Nachrichten von der Front. Dann war jahrzehntelang (mehr als 70 Jahre!) Ruhe und Frieden, aber die Ängste gingen weiter: Angst vor dem Ostblock, Angst vorm Atomtod, Angst vorm Bankencrash, Angst vor den Fremden, den Flüchtlingen. Angst vor der Zukunft. Angst vor dem Tod. Heute vor allem: Angst vor der Klimakatastrophe. Und in diesem Jahr: Angst vor Corona, vor diesem pandemischen Dauerzustand. Gerade wir Deutschen setzen auf Sicherheit und ängstigen uns vor allem, was diese Sicherheit bedroht.

Angst ist ein Alarmzeichen. Ein Warnsignal. Man muss es beachten. Man kann nicht einfach darüber hinweggehen. Alles nur halb so schlimm! Man kann die Angst nicht einfach verdrängen und beschwichtigen. Aber sie sollte uns nicht beherrschen. Und so sagt Jesus im Evangelium: „Wenn das alles beginnt, dann richtet euch auf und erhebt eure Häupter. Denn eure Erlösung ist nahe!“
Ein gutes Wort Jesu. Richtet euch auf. Erhebt eure Häupter. Das heißt: Ändert eure Blickrichtung. Schaut auf. Nach oben. Bezieht Gott ein.

Der Evangelist, der dieses Wort überliefert hat, hat sicher nichts von unseren Ängsten im Jahr 2021 geahnt. Ihn trieben andere Sorgen um. Seine Generation hatte gerade miterlebt, wie die Römer im Jahr 70 den Tempel in Jerusalem zerstörten und die Juden in alle Welt vertrieben wurden – eine furchtbare Katastrophe für alle, eine Welt-Erschütterung. Wie konnte es weitergehen für die kleine christliche Gemeinde? Die sehnsüchtig erwartete Wiederkunft Christi war nicht eingetroffen. Niemand wusste die Zeit und die Stunde, wann Christus wiederkommen würde. Vielleicht, so fingen die Christen an zu denken, vielleicht kommt er immer und an jedem Tag, kommt in Menschen und Ereignissen, kommt jetzt, hier und heute! Kommt unerkannt, ohne Pauken und Trompeten, und ohne dass die Sterne vom Himmel fallen. Kommt still und unscheinbar, wie als Kind in Bethlehem. Kommt oft durch die Hintertür.

Aber um das mitzukriegen, muss man wach und aufmerksam sein. Daher die Warnung im Evangelium, sich nicht durch Rausch und Trunkenheit „zuzudröhnen“ und sich nicht einschläfern und einlullen zu lassen. Das Evangelium will hier wirken wie ein Wecker: Steh auf vom Schlaf! Sei wachsam! Leb nicht nur in den Tag hinein! Lass dich von den großen Hoffnungen des Glaubens bewegen, schieb sie nicht beiseite!

„Wachet und betet!“ Diesen Appell richtet Lukas an seine Hörer; wir hören ihn jedes Jahr in der Adventszeit. Mit dieser Einladung zur Wachheit, zur Geistesgegenwart, zur „Achtsamkeit“, wie man heute gern sagt, werden wir also in das neue Kirchenjahr geschickt. Und das ist gut so! Denn unsere Zeit braucht wache, „aufgeweckte“ Menschen - und nicht den bequemen Halbschlaf, die oberflächliche Routine und das teilnahmslose Desinteresse, das oft so beherrschend ist.

„Richtet euch auf,“ sagt Jesus. Fixiert euch nicht auf das, was euch bedroht und Angst macht. Lasst euch nicht nach unten ziehen. Klagt nicht ständig darüber, wie es runtergeht mit der Welt, runtergeht mit der Kirche: Bleibt aufrecht!

„Erhebt eure Häupter,“ sagt Jesus. Schaut nach oben, nach vorn. Vor allem: Schaut auf Jesus. Mitten im adventlichen Gerenne, dem Stress und der alljährlichen unbegreiflichen Hektik: Schaut auf Jesus. Ich meine das ganz wörtlich: Nehmt ein Bild, eine Karte von ihm oder ein Kreuz oder eine Krippe oder eine brennende Kerze und schaut sie an, in aller Ruhe, ein paar Minuten oder länger – eine kurze Auszeit – und der Advent wird eine „Seele“ bekommen“! Niemand wird zur Hektik gezwungen. Man kann gegensteuern! Schaut auf Jesus, denn er ist das Gesicht Gottes, mitten in unserer Welt.

Komm – schreibt ein Freund, René Possel, in einem Gedicht:
komm wandle mich
  in mir ist tod
komm finde mich
  ich bin in not
komm wärme mich
  mir ist so kalt
komm steh mir bei
  ich suche halt
komm wasche mich
  ich bin nicht rein
komm iss mit mir
  ich bin allein
komm sprich ein wort
  ich bin so leer
marana tha
  ich brauch dich herr

Marana tha, der alte Gebetsruf der Kirche: Jesus, komm!
Bleib bei uns, in unserer Mitte, in unserem Herzen. Mögen wir offen genug sein, um gute Gastgeber zu werden – für ihn, und für die anderen.