Christkönig in der Diaspora

Predigt am 21.11.2021

Wundern Sie sich auch, dass es so viele Impfgegner gibt in unserem Land? Ein Drittel oder ein Viertel unserer Bevölkerung – das ist schon eine Hausnummer!

Die Argumente der Mehrheit, der Wissenschaftler und Politiker überzeugen sie nicht. Sie haben ihre eigene Wahrheit, und die wiederum wird von den anderen, von der Mehrheit, meistens als verschroben, aufgeladen mit Verschwörungstheorien, unsozial und gefährlich betrachtet. Ein Gespräch zwischen den Gruppen ist kaum möglich. Jeder bleibt in seiner Blase, will von Gleichgesinnten bestätigt werden, lässt sich vom Denken der anderen nicht überzeugen. Es gibt nur noch Lager, die sich gegenüberstehen. Eine gemeinsame Wahrheit, die man miteinander teilt, ist verlorengegangen. Ich habe meine Wahrheit, du hast deine. Lass mich bitte in Ruhe.

„Was ist Wahrheit?“, fragt Pilatus – übrigens der einzige Mensch, der im Credo genannt wird. Was für eine berechtigte Frage, gerade heute! Denn im heutigen Denken und im breiten Hauptstrom der Wissenschaft zerfällt die Wahrheit. Sie ist relativ, sie hängt nur vom Auge des Betrachters ab. Eine objektive Wahrheit, die in den Dingen selber liegt und nicht im Auge des Betrachters, wird weithin abgelehnt. Wahrheit, so sagen die einflussreichen Denker dieser Zeit, ist nur eine Konstruktion unsererseits, um die komplizierte Wirklichkeit besser zu verstehen und in den Griff zu kriegen. Wir konstruieren also die Wahrheit! Und die Denker hassen es, wenn einer die Wahrheit für sich gepachtet hat. Sie sagen z. B: „Keine Religion kann von sich behaupten, die wahre zu sein.“ Es gibt für sie keine wahren Sätze (was ja übrigens auch bedeutet, dass ihre eigenen Sätze und Thesen auch nicht wahr sind!). Es gibt nur Meinungen: meine Meinung – deine Meinung. Wahrheit ist nicht mehr der Sockel und das Funda-ment; alles steht auf wackeligen Füßen. Nur noch Meinungen zählen. Pilatus würde sich die Augen reiben. Und Gott tut das sicher auch – er, Jahrtausende lang die Wahrheit schlechthin, die absolute Wahrheit – kann über sich in Büchern lesen und in Diskussionen hören, dass er nicht mehr als eine Meinung ist, die Meinung von Christen oder anderen Gruppen. Dieser Sachverhalt erklärt, warum Gott kaum noch öffentlich genannt und bekannt wird – nur noch im „Lager“ der Kirchen und Glaubenden. Er ist in Europa kein Wort mehr, auf das sich alle einigen können. Und da alles nur noch als Meinung gilt, ist die Welt so, wie sie jetzt erscheint: mit Fake-News und ropaganda, mit Influencern und Querdenkern, mit dem wieder auferstehenden Donald Trump und Meinungen, Meinungen, Meinungen. Alles redet auf dich ein, alles will dein Gehör, alles ist nur Werbung für eigene Zwecke. Wahrheit ade!

Was müsste denn sein, dass Wahrheit – wirklich: Wahrheit – erkennbar wird und ans Licht tritt? Sogar göttliche Wahrheit, Wahrheit von Gott? Was könnte uns überzeugen, dass da mehr als eine bloße Meinung auf dem Markt der Möglichkeiten herausposaunt wird?

„Ich bin dazu in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme.“ (Joh 18,37) Seine Stimme ist ganz anders als die der Marktschreier auf dem Markt der Weltanschauungen. Seine Wahrheit: Nicht irgendeine Idee, irgendein Gedankengebäude oder Programm, sondern: Er selbst. Ein Name – Jesus. Ein Gesicht, eine Person. Ein Mensch verkörpert die Wahrheit! Ein Mensch, der etwas an sich hat und in sich hat, das andere nicht mehr ruhig lässt. Darum folgen sie ihm nach, suchen seine Nähe. Sie sind im Tiefsten berührt: von seinen Worten, von seinen Gesten, von seinen Taten. Von ihm: weil seine vollkommene Menschlichkeit den unsichtbaren Gott aufleuchten lässt. Gott scheint durch ihn. Die Wahrheit leuchtet in ihm auf. Was Menschen in ihrem Herzen immer ersehnt haben geschieht.

Wahrheit spricht hier nicht aus den Büchern, sondern aus dem Leben! Und ih
Nein, umgekehrt. Die Stimme sagt: Ich bin für dich gestorben. Das ist mein Leib, der für euch hingegeben wird.
Da steht einer ganz für diese Wahrheit ein, hält den Kopf hin, lässt sich kreuzigen, und seine Jünger lassen sich enthaupten oder sonst wie umbringen (die Menschheit ist da ja sehr erfindungsreich!). Menschen gibt es, die für die Wahrheit ihr Leben lassen – täte man das auch für bloße Meinungen?

Inmitten der vielen unverbindlichen Meinungsäußerungen, die nichts kosten, also eine verbindliche Stimme, die alles kostet, selbst das eigene Leben.
Weil Jesus so verbindlich und so verbindend ist (mit Gott, mit dem Nächsten), mag man ihn auch „König“ nennen: Christkönig. König mit der Dornenkrone. Goldkronen – das passt nicht zu ihm. Und Pilatus mit all seinen Kollegen heute – passt auch nicht dazu.
Jesus als die Wahrheit – das hat seit 2000 Jahren gehalten. Auch ein mögliches Kriterium für die Wahrheit: Sie hält, sie bewährt sich. Ist lebenstauglich, hilft Menschen zu leben. Und ist nicht korrumpiert – auch wenn Christen und Kirchen selber alles dazugetan haben, sie in den Schmutz zu ziehen, sie unglaubwürdig zu machen.
Und so wird die Wahrheit Jesu heute weithin in der Diaspora verkündet, wo Einzelne, hier und da, sich an ihr freuen. Die Massen stehen woanders und begnügen sich oft mit den Meinungen. Aber auch für sie bleibt das Tor offen.

Christus ist für alle gekommen. Für alle ist er die angebotene Wahrheit.