Das Leben feiern. Zum Tode von Dr. Aldo De Luca

Predigt am 04.11.2021

Manche Leute nannten ihn Dr. De Luca. Dottore, so sprach ich ihn anfangs an, wenn wir uns in der Stadt sahen. Aber daraus wurde bald: Aldo. Und so ging es wohl vielen: Der bei uns seltene prägnante Vorname wurde fast zum Hauptnamen. Der Aldo.

Das lag an ihm selbst, am Typ. Da strahlte etwas heraus aus ihm. Eine Leichtigkeit, ein freundlicher, lockerer, charmanter Umgangston. Kontakt zu schließen fiel ihm nicht schwer. Dazu kam das Jugendhafte. Der Mann alterte kaum. Beneidenswert! Lebensfreude sprühte bis zum Schluss. Und schnell, allzu schnell war womöglich eine Erklärung zur Hand: der Nationalcharakter. So sind sie halt, die Italiener! So mögen wir sie! Aber Vorsicht mit diesem Klischee! Das Sonnige, das selbst etwas eingefrore-ne Lüdenscheider erwärmen kann, war nur eine Facette. Aldo war zugleich suchend, hochgebildet, nachdenklich, bescheiden – einer, der auch schmerzhafte Entwicklungen im Lebensgang zu verarbeiten hatte. Kein Sonnyboy – sondern ein Mensch mit Tiefgang. Den spürte ich sehr, wenn er von der Arbeit seiner inzwischen verstorbenen Schwester Delfina, einer Ordensfrau erzählte, die lange Jahre in Rwanda, Afrika, ein Heim für taubstumme und hörgeschädigte Kinder geleitet hatte. Er kannte wohl auch die Seiten des Lebens, die wehtun.

Aldo starb am 12. Oktober. Ich war da gerade im Kurzurlaub in Weimar – bei Goethe, dem großen Liebhaber von Italien, dem Land, wo die Zitronen blühn. Da kaufte ich mir genau am 12.10. ein neues Buch mit dem Titel „Heimreisen“ und dem Untertitel „Goethe, Italien und die Suche der Deutschen nach sich selbst“. Es ging sehr stark um Goethes berühmte „Italienische Reise“, mit der Italien sich in den Herzen und Köpfen der Deutschen als das Sehnsuchtsland etablierte. Damals eigentlich war es bei Goethe eine Flucht in aller Geheimhaltung, eine Flucht aus der Enge und Kälte Weimars und den Ansprüchen des Regierens. Es war die Erfahrung einer Befreiung! Goethe beginnt, in Rom zu leben, schreibt der Autor (S. 149) – „mit einem Gemüt, das sich erheitert, das offener, teilnehmender und mitteilender wird“. Es speichert die Glücks-momente des italienischen Sommers in den Vorratskammern des Herzens, damit der Lebenswinter in Weimar sich später aufhellen kann.

Lüdenscheid und Weimar sind nicht so weit auseinander. Vielleicht war der hiesige Freundeskreis der italienischen Kultur mit all den vielen „italienischen Reisen“ unter der Regie von Aldo so erfolgreich, weil da Ähnliches geschah. Die Sehnsucht nach Schönheit, nach Weite, nach einem anderen Lebensstil fand ein Ziel, fand eine „zweite Heimat“. Die Vorratskammern des Herzens füllten sich auf für den Winter, für die eingespielten Abläufe, für die Zeiten mit der Hauptfarbe Grau.

Der Freundeskreis in Lüdenscheid wurde 1987 gegründet zur besseren Kenntnis der italienischen Kultur. Kultur fand für Aldo, den Studienrat, den Sprachvermittler, den Reiseleiter, nicht nur – und vielleicht nicht so sehr – statt in Museen, Bibliotheken, Theatern und Konzertsälen. Ich sehe Aldo durch seinen Garten stapfen in Bagni San Filippo in der Südtoskana, er schneidet Gemüse und Kräuter fürs Abendessen. In diesem Garten hat er früher ganze Schulklassen campieren lassen, Schüler aus Lüdenscheid und aus der Partnerschule in Cittadella, – kleiner menschlicher Brückenbau in schöner Umgebung! Natur und Kultur sind für Aldo nahe Verwandte, in der Küche leistet er Großes. Er hält einen kleinen Vortrag über Olivenöl, und dann gehen wir durchs Dorf, wo ihn jeder kennt und er mal so etwas wie ein Ratsherr war. Kultur ist bei ihm geerdet, hat Bodenhaftung. Er sieht die Menschen und erzählt von ihnen, das Aktuelle, das Soziale und Konkrete ist ihm wichtig, in Sizilien – auf der letzten Gruppenreise kurz vor seinem Tod – kann er die Mafia und ihre Psychologie präzise beschreiben. Und immer wieder lebt er das vor, was man mit „italienischer Lebensart“ verbindet: Gelassenheit, Ausgleichen, warmherzige Fröhlichkeit. Kultur ist das Leben selbst.

Und dazu gehört auch der Umgang mit dem Tod. Der war immer Teil vor allem der religiösen Kultur. Das 21. Jahrhundert zeigt sich extrem unlustig und zurückhaltend, Hoffnungen zu formulieren und so etwas wie die Vorstellung von „Ewigkeit“ gedanklich zu umkreisen. Tot ist tot, und aus ist aus, weithin. Ich denke, das hätte auch Aldo nicht gefallen. Die vor genau 700 Jahren vollendete „Göttliche Komödie“ von Dante (1321), die den Lesenden durch Himmel, Hölle und Fegefeuer führt, durch alle Sphären der Ewigkeit, drückte noch eine Lust an den „letzten Fragen“ aus. Eine Sehnsucht, dass der Tod nicht die finale Sackgasse ist, sondern ein Tor, ein Portal in eine andere, ewige Qualität des Lebens – verheißen in der Bibel, dargestellt in großer Kunst, in Töne gesetzt bei Bach und anderen, angedeutet und umspielt in der Dichtung. Das ist ein ganz wichtiger Zweig der Kultur! So, für mich besonders gelungen, bei der Dichterin Marie Luise Kaschnitz, vor etwa 60 Jahren:

Glauben Sie – fragte man mich –
an ein Leben nach dem Tode
und ich antwortete: Ja
Aber dann wusste ich
keine Auskunft zu geben
wie das aussehen sollte
wie ich selber aussehen sollte
dort
Ich wusste nur eines:
Keine Hierarchie von Heiligen
auf goldenen Stühlen sitzend
kein Niedersturz verdammter Seelen
Nur
nur Liebe – frei gewordene
niemals aufgezehrte
mich überflutend

Mehr, fragen die Frager
erwarten Sie nicht nach dem Tod?
Und ich antworte:
Weniger nicht.

Unser letztes Wort hier: das Psalmwort aus der Todesanzeige. Du führst mich hinaus ins Weite.

Aldo hat diese Weite kennengelernt: Die Weite des Lebens, des Reisens und des Glaubens. Die Weite der Freiheit und der menschlichen Solidarität. Die Weite der Na-tur und der Landschaften. Die Weite Gottes. Er hat das Leben gefeiert. Sein Sterben zeigt allerdings ein Gegenbild. Lungenleiden. Atemnot. Nur mühsam Luft kriegen. Es wird ganz, ganz eng.
Da ist er jetzt hindurch. Er hat es hinter sich. Und die Weite hat das letzte Wort.