Das Dreifachgebot: Gottes-, Nächsten-, Selbstliebe
Predigt am 31.10.2021
Aus dem Spätjudentum, der Zeit kurz vor Jesus, ist uns folgende Geschichte überliefert:
Ein Heide kommt zu einem hochberühmten jüdischen Gelehrten, zu Rabbi Schammai, und sagt ihm: „Ich bin interessiert daran, Jude zu werden,
aber nur dann, wenn du mir das Wesentliche eures Glaubens ganz kurz und bündig erklären kannst – vielleicht so lange, wie ich auf einem Bein
stehen kann!“ Der Rabbi wird zornig: „Das ist eine Zumutung!“ – und jagt den Heiden weg.
Dieser lässt sich nicht entmutigen. Er geht zur „Konkurrenz“, zu dem fast noch bekannteren Rabbi Hillel. Wieder erklärt er dasselbe, inclusive
der Zeitspanne für die Antwort: „... solange ich auf einem Bein stehen kann!“ Hillel überlegt, und dann sagt er: „Was du nicht willst, dass
man dir tu, das füg auch keinem andern zu. In diesem einen Satz ist das ganze jüdische Gesetz zusammengefasst. Halte dich daran. Alles andere
ist nur Kommentar dazu!“
Stellen Sie sich nun vor, dieser Mann würde heute zu einem Theologieprofessor kommen und das Wesentliche des christlichen Glaubens so schnell
erklärt haben wollen, wie er auf einem Bein stehen kann. Der Herr Professor bräuchte wahrscheinlich die Länge eines Marathonlaufs! Er würde
die Geduld des wissbegierigen Heiden wohl sehr überfordern. Und unsereins hätte wohl auch keine Kurzfassung parat.
Aber Jesus selber konnte kurz und bündig antworten. „Du sollst Gott lieben mit ganzem Herzen. Als zweites kommt hinzu: Du sollst deinen
Nächsten lieben wie dich selbst!“
Doppelgebot nennt man das. Aber eigentlich spricht Jesus ein Dreifachgebot aus. Der Dritte im Bunde bist du selber. Selbstliebe ist der
Ausgangspunkt. Wer sich selbst nicht lieben und nicht „leiden“ kann, der kann wahrscheinlich auch andere nicht lieben. Und das betrifft eine
ganze Menge Menschen, die Schwierigkeiten haben, zu sich selbst Ja zu sagen, sich anzunehmen, wie sie sind. Oft von Kindheit an wurde ihnen
die Lebensnote 5 oder 6 gegeben: mangelhaft. Ungenügend. Immer hinterherhinkend hinter den anderen. Und sie haben das dann übernommen und zum
inneren Bild ihrer selbst gemacht: Du bist nicht wirklich liebenswert! Du bist minderwertig! Zumindest haben sie heftige Zweifel an sich
selbst – Zweifel und Komplexe, die sich tief eingegraben haben, und die man nicht so leicht loswird.
Ob die Gottesliebe da helfen kann?
Gewiss nicht, wenn sie nur eine Anstrengung des Willens ist: Ich muss Gott lieben – und kann es doch gar nicht. Das wird ein freudloser Krampf!
Und wie soll das denn gehen: Gott zu lieben? Meine Gefühle sind doch so unsicher! Vielleicht kann ich ja mir nahe Menschen lieben – aber den
unbegreiflichen, unsichtbaren Gott? Aber womöglich kann ich ihm ja den ersten Schritt überlassen? So zeigt ihn doch die Bibel: ein Gott, der uns
Menschen liebt. Vorbehaltlos. Grenzenlos. Gerade die Armen liebt er, die Verlorenen, die sich schwertun mit dem Leben. Hundertmal kann ich sagen:
Er liebt mich, ehe ich zum ersten Mal sage: Ja, ich liebe ihn auch.
Gut, wenn die Liebe Gottes zu uns, zu mir eine Erfahrung wird – und nicht nur eine Behauptung, die alle schlucken müssen! Ja, ich habe sie
erfahren – ich denke über mein Leben nach, ich versuche es zu deuten, und da sind Spuren dieser göttlichen Liebe.
Gut, wenn die Liebe zu Gott keine reine Pflichtübung wird, eine Art „Muss“ im Beten und Kirche-Gehen. Gut, wenn sie aus der Dankbarkeit kommen
kann, aus der Freude an meinem Leben - und dem der anderen. Danke – das ist ein wunderbares Grundgefühl! Danke, dass ich zu meinem Leben stehen
kann, dass ich es annehmen kann trotz aller Grenzen und Schwächen und Schwierigkeiten! Danke für den Halt, den ich in Gott finde. Danke, dass
ich Aufgaben habe, an denen ich wachse. Danke für die Schönheit der Blumen und des Goldenen Oktobers. Danke für die Freunde, für die Musik und
das Glas Wein. Danke, dass ich danken kann. Ich danke – und so lebe ich, und so liebe ich. Dich und alles. Dich in allem.
Dich wirklich in allem! Zwei Menschen, die sich lieben, können sich fragen: Wie kommt das eigentlich, dass wir uns so verstehen, vertrauen und
lieben? Das ist ja alles andere als selbstverständlich! Es lässt sich nicht machen – nicht mit Geld und nicht mit guten Worten. Es lässt sich
auch nicht erzwingen, nicht mit angestrengtem Willen und nicht mit Gewalt. Es ist Geschenk, es ist Gnade, der eine ist mit dem anderen beschenkt.
Die Liebe kommt nicht aus uns, sondern zu uns! Wir haben sie nicht in der Hand. Wie aus einer Quelle jenseits des Machbaren kommt sie – als
Gabe und Aufgabe.
Die Quelle dieser Liebe nennen wir Gott. Eine grenzenlose Quelle.
So hängen Gottes- und Nächstenliebe zusammen. Sie sind nicht dasselbe. Der Nächste ist nicht Gott. Keiner kann und muss dem anderen sein „Ein
und alles“ sein. Wir dürfen einander nicht überfordern und überschätzen! Das Wort „Gott“ setzt da eine Schranke. Er allein ist in Allem. Aber
er, die Quelle, lässt es strömen. Hin zum anderen, zur anderen. Hin zum Nächsten.