Endlich wieder – Berührungen

Predigt am 27.06.2021

Endlich wieder Lockerungen im Leben! Etwas zaghaft fangen sie wieder an – die Besuche, die Zeichen der Nähe, das Händeschütteln, die Umarmungen. Der Abstand der Angst wird kleiner, Gott sei Dank. Berührungen, so lange vermisst, sind hier und da wie eine neue Brücke. Die anderen rücken einem wieder näher; Hände wie Herz finden wieder mehr zueinander. Berührungen sind ziemlich heilsam.
Das zeigt sich auch im heutigen Evangelium. Es erzählt von der blutflüssigen Frau. Bei ihr reicht schon, ganz sachte das Gewand Jesu im Gedränge zu berühren – und sie fühlt sich geheilt!
Die Frau muss vorher keine Papiere ausfüllen, muss sich nicht registrieren lassen wie bei den Impfungen. Sie muss auch nicht das Glaubensbekenntnis aufsagen, sie muss vor Jesus keine langen Erklärungen abgeben. Nur eine sachte Berührung im Gedränge! Wechselseitig wahrscheinlich: Noch ehe die Frau das Gewand von Jesus anfasst, hat er sie schon in ihrem Inneren berührt. Er „zog sie an“. Hätte sie sich sonst an ihn herangedrängt? Hätte sie sonst ihre Hoffnung auf ihn gesetzt?

Die Frau wird schon seit 12 Jahren, seit einer Ewigkeit, von ihrer Krankheit geplagt. Mit dem Blut rinnt auch das Leben aus ihr heraus, wird ihre Lebenskraft immer schwächer. Auch das Geld wird immer weniger. Die Ärzte lassen sich gut bezahlen – ohne ihr wirklich helfen zu können. Ohne Erfolg. Das ja nun sehr intime Leiden der Frau hatte damals sehr öffentliche Folgen: Blutungen sind tabu, die hygienischen Probleme machen kultisch unrein. Fast so wie die Aussätzigen ist sie „draußen“. Wer der Frau auch nur die Hand gegeben hat, muss sich erst kultisch reinigen, bevor er zum Gottesdienst oder in den Tempel gehen kann. Das Leiden schloss also auch aus der Gemeinschaft aus. Mit dieser Krankheit konnte man sich eigentlich nirgendwo mehr blicken lassen! Die Frau darf selber den Tempel und die Synagoge nicht mehr betreten, darf sich dem göttlichen Bereich nicht nähern. Man muss sich diese Frau sehr isoliert vorstellen, wie hinter einem Gefängnisgitter – in großer seelischer Not, abgeschnitten von den Menschen. Abgeschnitten auch von Gott, um den ja die Mauer der kultischen Reinheit hochgezogen worden ist.

„Von hinten“, anonym, fast unsichtbar, im Getümmel der Menge, in diesem unübersichtlichen Andrängen, vielleicht mit schlechtem Gewissen tastet sich die Kranke an Jesus heran, an sein Gewand, an ihn selbst. Wenn sie auch den Tempel aus Steinen nicht betreten darf – zu ihm, Jesus, dem „lebendigen Tempel Gottes“, sucht sie ganz scheu Zutritt. Wo der Tempel aus Steinen für sie versperrt ist, da ist der Tempel Gottes aus Fleisch und Blut, der Tempel des großen göttlichen Herzens, offen und zugänglich. Jesus wehrt sie nicht ab. Er gebraucht kein harsches Wort. Stattdessen spricht er den Friedensgruß: „Geh in Frieden. Dein Glaube hat dir geholfen. Du sollst von deinem Leiden geheilt sein!“

Wie das? Das war schon Glaube? Sich an Jesus herandrängen und sein Gewand anfassen? Manche Theologen haben darüber den Kopf geschüttelt und geurteilt: Das ist doch Magie! Wundersucht, Aberglauben! Für sie muss der Glaube sozusagen „chemisch rein“ sein. „Unrein“ ist ein Horror für sie – damals wie heute. Glaube, das sind für sie die großen Worte: totales Vertrauen in Gott. Nachfolge Jesu. Aufbruch, Bekenntnis, Lehre, Dogma, kirchliches Leben. Möglichst alles in Hochform, den ganzen Tag lang. Wie bei Mönchen oder Nonnen vielleicht. Eine sehr hochgelegte Messlatte, wie beim Hochsprung. Nur die Heiligen, oder Dreiviertelheiligen, kommen vielleicht hinüber.

Die Frau hält es da anders. Die Berührung des Saums von Jesu Gewand bleibt sehr nah an der Erde. Sie muss sich bücken. Das ist etwas für ganz normale Menschen „von der Straße“, die eher selten in Meditation und tiefem Gebet versinken. Menschen von 2021. Sie müssen auskommen mit einer eher flüchtigen Begegnung Gottes, hier und da. Es ist wie ein „Anklicken“ im Internet – gelegentlich sich einschalten, einloggen bei Gott. Hier und da ein Stoßgebet, eine selbstlose Tat. Manchmal eine Kerze in der Kirche anzünden – (wie wir es bei einer Gemeindewallfahrt in die als sehr weltlich geltende Stadt Frankfurt einmal festgestellt haben: Mitten in der Stadt, da wo die Banker herumlaufen, die voll beruflich Eingespannten wie die Obdachlosen, werden jeden Tag rund 2000 Kerzen in der zentralen Kirche der Kapuziner angezündet. Fast zweitausendmal also ein Abladen seelischer Lasten, ein kleines Hoffnungszeichen: Niemals die Hoffnung aufgeben!)

Das ist so etwas wie das Erhaschen des „göttlichen Saums“, der über den Boden streift. Das sachte Berühren des Gewands Jesu. Wenigstens das.
Vielleicht ist es mehr, als wir glauben.

Jesus lässt sich im Gedränge, im Stress und in der Hektik und in den Bedrängnissen des Alltags berühren. Für manche leicht und flüchtig. Für andere richtig folgenreich - heilsam und heilend. Jesus hat den Thomas ausgehalten, der die Wundmale berühren wollte und durfte. Er hat die Frau zugelassen, die in ihrer Suche nur an sein Gewand herankam. Zuvor berührt er uns – warum sollte uns sonst sein „Gewand“, sein „Saum“ interessieren?