Ewiges Leben – ausgespannt zwischen Himmel und Erde

Predigt am 4. Fastensonntag 14.03.2021

„Wer glaubt, lebt in einer unendlichen Weite. Er blickt auf zum Himmel – und steht doch fest auf der Erde. Er bewundert die Unermesslichkeit des Kosmos – und bestaunt eine winzige Blume. Er kennt die Abgründe des menschlichen Herzens – und wird getröstet von dem Lächeln eines Kindes.
Er setzt auf den Einzelnen – und hat doch begriffen, dass Gott in der Welt ein Volk braucht. Er hat erkannt, dass er selbst handeln muss – und erfährt dabei ständig, dass alles Gnade ist. Er lebt ganz im Heute – und streckt sich aus nach dem, „der kommen wird“. Er weiß, dass er Staub ist – und zugleich von seinem Schöpfer unendlich geliebt. Er glaubt an das Gericht – aber ebenso an das abgrundtiefe Erbarmen Gottes. Er ist ausgespannt zwischen Himmel und Erde.“


Liebe Christen, das war jetzt ein langes Zitat. Es sind die ersten Sätze eines brandneuen Buchs über den Glauben. (Gerhard Lohfink; Ausgespannt zwischen Himmel und Erde) So kann man uns Christen beschreiben: dass uns zweierlei bestimmt – die Erde und der Himmel. Die Erde, die Realitäten des Daseins – Familie, Beruf, Gesellschaft usw. – und die Ausrichtung auf etwas, das uns übersteigt, das vor uns liegt, dem unsere Sehnsucht gilt: Der Himmel. Gott. Beides zusammen macht uns zu Christen.

Welche Sehnsucht erfüllt uns? Ich finde mich da selber gut wieder in dem Anfangszitat, das die zwei sich ergänzenden Pole beschreibt: Erde und Himmel. Sinn für das ganz Große und das ganz Kleine. Freiheit und Bindung, Einzelner und Gemeinschaft. Staubkorn und unermesslicher Wert – eben: Ausgespannt sein zwischen Himmel und Erde.

Vor ein paar Tagen habe ich eine Podiumsdiskussion im Internet mitbekommen. Eine Tagung in der „Wolfsburg“, der Akademie unseres Bistums Essen. Es ging um die Welle der Kirchenaustritte. Eine Frau aus Köln diskutierte mit, die immer sehr aktiv in ihrer Gemeinde war und sich nun von der Kirche verabschiedet hat – nicht aus mangelndem Glauben oder Desinteresse, sondern aus Enttäuschung. Die Kirche stehe ihrem Glauben nun eher im Weg, sagte sie. Sie erfahre da kaum Stärkung, sondern vor allem Ärgernisse. Der Essener Generalvikar Pfeffer war bei der Diskussion auch dabei. Er verstand die Frau durchaus; er sei immer wieder im Gespräch mit Menschen, die die Kirche verlassen haben oder dies tun wollen. Er sei sehr interessiert daran, welche Sehnsucht diese Menschen erfülle, und ob sie eine andere geistliche Heimat suchen und finden, eine Gemeinschaft, eine Gruppe, in der sie sich getragen fühlen.

Im heutigen Evangelium hören wir hinein in ein ähnliches Gespräch, ein Nachtgespräch sogar. Partner sind Jesus und ein jüdischer Ratsherr und Schriftgelehrter, Nikodemus. Nachtgespräche drehen sich meist nicht um irgendwas Nebensächliches, sondern um etwas, das wir ein wenig großsprecherisch „Sinn des Lebens“ nennen. Ein Austausch über die tiefste Sehnsucht, die uns bewegt und antreibt. Da schaut man dann nicht auf die Uhr.

Nikodemus ist einer, mit dem man reden kann: ein Suchender. Ein offener, aufrichtiger Mensch, der von Jesus lernen will. Und Jesus gibt das entscheidende Stichwort: Ewiges Leben. Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren geht, sondern ewiges Leben hat. (Joh 3,16)

Ewiges Leben: ja, das möchte ich. Das trifft es. Aber man muss das Wort weiter und umfassender verstehen als üblich. Ewiges Leben fängt nicht erst an mit dem Tod. Es ist nicht der „Nachtisch“ im Jenseits. Es ist der „Hauptgang“ schon mitten im Leben. Ewiges Leben – das hat ein Mensch schon hier auf der Erde –, ein Mensch, der sich ausspannt zu Gott hin, zum Himmel hin, und gläubig, vertrauensvoll und liebevoll seinen Weg auf dieser Erde geht. Ewiges Leben – das ist intensiv, beglückend, es umfasst Glück und Leiden – aber so, dass man den Schmerz tragen kann. Es ist ein Leben in der Spur Jesu. Und wenn man stirbt, nimmt man das ewige Leben mit in den Tod, und es geht durch den Tod hindurch, hin zum Ziel von allem: der Gemeinschaft in und mit Gott.

Wenn ich ein Kind taufe, denke ich manchmal: Jetzt bist du im ewigen Leben. Du hast es, schon jetzt! Freu dich und frohlocke! Hoffentlich weißt du es später zu schätzen.

Als Menschen der frühen Kirche zum Glauben an Jesu kamen, war das wirklich eine Wende im Leben. Ein neues, ewiges Leben begann. Man sah sich und alles mit anderen Augen – in einem neuen Licht! Zum Beispiel lernte man die anderen als Brüder und Schwestern zu sehen und Gott als den gemeinsamen Bezugspunkt, den „Vater“, zu dem man aufschaut. Man sah nicht mehr sich als Angelpunkt und Mittelpunkt von allem – sondern Gott! Man sah neu und anders in die Welt und sah neu und anders, „was im Leben wirklich zählt“.

Dieses Evangelium mit Nikodemus hören wir in der Fastenzeit. Vor allem die Taufbewerber fühlten sich dadurch angesprochen, die in der Osternacht getauft wurden. Da feierte man dann zu Ostern mit der ganzen Gemeinde diese große Wende, wo Menschen die Türschwelle zum Glauben überschritten und im ewigen Leben ankamen. Wende, ja „Wiedergeburt“ wirklich „aus Wasser und Heiligem Geist“ – das wurde mit großer Freude und aus ganzem Herzen gefeiert!

Was könnte „Wiedergeburt“ nun für uns heißen, die wir ja alle schon getauft sind? Ja, wir sind getauft, aber unser Glaube ist vielleicht „eingetrocknet“ und verschrumpelt wie Obst, das zulange in der Schale liegt. Unser Glaube ist vielleicht zu sehr Gewohnheit und Routine geworden, eine Pflichtübung oder eine Kopfsache. Vielleicht haben wir ihn in die Abstellkammer verbannt – zu allem anderen Gerümpel des Lebens. Und dann merken wir: Er muss ins Leben, an die frische Luft, er muss sich erneuern.

Wiedergeburt, Erneuerung: Manche erleben das in Krisen oder in der Trauer. Auch jetzt in der Corona-Zeit. Da brechen ganz neu Fragen auf. Die alte Routine zerbricht. Man spürt: Der eingetrocknete Glaube reicht nicht mehr aus. Dann kann einem Gott ganz neu aufgehen und begegnen.

Andere erleben Erneuerung durch Begegnungen mit Menschen und Gruppen, die etwas „ausstrahlen“. Eine Taizéfahrt hallt für Jugendliche lange nach. In der Kirche, die für viele so enttäuschend geworden ist, sind in allem „gedroschenen Stroh“ immer noch viele Goldkörner zu finden. Eine Begegnung, ein Ereignis, etwa die Geburt des eigenen Kindes, kann zu einem „Schlüsselerlebnis“ werden, das das Herz öffnet. Und das bekommt dem Leben, macht es reicher und reifer. Macht es: ewig.