Unerkannt mitten unter euch

Predigt am 13.12.2020

„Mach dich fein - Jesus kommt.“ Ein Wort aus dem Dezember-Psalm von Hanns Dieter Hüsch. Der ihn kommen sah, ist der Prophet Johannes der Täufer. Der Mann mit dem tiefen Blick. Zu den Pharisäern sagt er: „Mitten unter euch steht einer, den ihr nicht kennt!“

„Ich sehe was, was du nicht siehst“ – das haben wir als Kinder gerne gespielt. Und genau das ist die Gabe der Propheten, wie Johannes – das, was noch unerkannt und verborgen ist, bekannt zu machen. Sie sind sozusagen die „Öffentlichkeitsarbeiter“ Gottes. Denn Gott ist da, aber verborgen bis auf den heutigen Tag. Die Propheten haben gleichsam eine „Brille“, eine Sehhilfe, um das Verborgene zu sehen – mit den „inneren Augen“, den Augen des Herzens und des Glaubens.

„Ton abgeben“, auch das haben wir als Kinder gespielt. Wir spielten oft Verstecken, und wenn ein Kind sich so gut versteckt hatte, dass man es gar nicht fand, riefen wir „Ton abgeben!“ Dann wussten wir, in welcher Richtung wir zu suchen hatten. Die Propheten „gaben den Ton an“, wo man suchen sollte. Sie sind eine Stimme, die Stimme eines „Rufers in der Wüste“. Sie stehen und gehen und rufen für Gott. Sie „offenbaren“ ihn. Wir nennen ja die ganze Bibel „Offenbarung Gottes“. Wörtlich bedeutet Offenbarung: einen Schleier, einen Vorhang wegziehen, so dass man endlich sehen kann. Stellen Sie sich vor, eine ganz streng muslimische Frau würde die Burka, die völlige Verhüllung, ablegen – erst dann kann man sehen, wie schön sie ist! Oder ein Vorhang zerreißt und macht offenbar, was dahinter ist. Das passiert ja bekanntlich in dem Augenblick, als Jesus am Kreuz stirbt: da zerreißt der Vorhang im Allerheiligsten des Tempels. Er hat ausgedient, er ist nicht mehr nötig. Kein Vorhang mehr, um Gott zu verbergen! Gott tritt zutage, kommt ans Licht, „lässt die Schleier fallen“ – aber wie! Und wir sehen die unverhüllte Wahrheit Gottes – im blutenden Leib des Gekreuzigten! Ein heidnischer römischer Hauptmann bekennt in diesem Moment unter dem Kreuz: „Wahrlich, dieser Mensch war Gottes Sohn!“ So offenbart ein Heide den Glauben. Und zwar ganz anders, als die Menschen denken und wollen. Da werden unsere Vorstellungen und Ideen wirklich durchkreuzt. Das liegt quer! Unsere übliche Vorstellung ist doch eher: Gott sitzt auf dem Thron seiner Macht. Er kommt „von oben“. Und was zeigt die Offenbarung? Er kommt „von unten“ – in einem Kind. Es liegt in der Krippe der Armut. Daraus wird dann ein junger Mann, ein Wanderprediger. Er zieht umher, hat keinen festen Wohnsitz, man kann ihn so leicht übersehen. Mitten unter euch steht er, unerkannt! Er gibt sein Wort, er gibt seine Kraft, er heilt und tut Wunder, setzt Zeichen der Liebe, die uns heute noch die Tränen in die Augen treiben können. Er schafft eine Gemeinschaft und wird doch abgelehnt von den meisten seiner Zeit. Er scheint zu scheitern, wird schließlich verfolgt und getötet. So einen kann man leicht übersehen. Er hätte eine kleine Fußnote, eine Episode in der Geschichte der Menschheit bleiben können. Wirklich: Unerkannt hätte er bleiben können mitten unter uns.

Aber es kommt anders! Jesus findet Zeugen – nach Ostern, nach seiner Auferstehung. Sie haben ihn erlebt und erzählen davon. Sie lassen alles liegen und stehen für ihn: die Apostel, dann Paulus. Sie sind Zeugen im Nachhinein – von seinem Ende her. Johannes dagegen spricht für ihn im Vorhinein, bevor es mit Jesus richtig losgeht. Er ist der Vorläufer, der Mann mit dem „Riecher“ für das, was kommt. Johannes steht im Schatten. Er zeigt nicht auf sich, sondern auf das Licht, auf das Licht der Welt. Er selbst nimmt sich ganz zurück. Und damit wird Johannes ein großes, unerreichtes Vorbild für die Kirche. Sie war immer in der Gefahr, auf sich selber zu zeigen und sich selber wichtig zu machen. Aber sie ist genauso „vorläufig“ wie der Vorläufer Johannes. Sie kommt und geht – nur Gott allein ist ewig. Sie ist dazu da, um zu dienen. „Eine Kirche, die nicht dient, dient zu nichts“, sagt ein französischer Bischof, Jacques Gaillot, der sich seit Jahrzehnten für Migranten und Obdachlose in Paris einsetzt. Die Kirche steht selber im Schatten, manchmal im Finsteren, aber von dort aus blickt sie ins Licht! Stellen Sie sich vor, Sie sind in einem dunklen Flur, keine Lampe ist da, und dann geht auf einmal die Tür eines Zimmers auf – und ganz viel Licht dringt heraus! Worüber wir wahrscheinlich niemals nachdenken: Das Dunkle dringt nicht ins Zimmer ein und verbreitet sich da, nein – das Licht kommt heraus auf den Flur. Das Licht ist stärker! Das hat die Kirche erfahren: Sie ist, wie Johannes, ein Zeigefinger auf das göttliche Licht! Diese Blickrichtung – hin zum Licht Gottes – ist das Entscheidende.

In jeder Messe und jedem Gebet sind wir auf Gott hin gerichtet. Wir kreisen hoffentlich nicht um uns selbst, auch wenn wir viel auf dem Herzen haben. Still werden, lauschen, hören, Gott Raum geben in uns, die Kommunion empfangen: so könnte unsere Ausrichtung aussehen.

Kirche ist Kirche Jesu Christi, wenn sie ins Licht blickt – und wenn sie dann dient. „Ich bin nicht Herr eures Glaubens, sondern Diener eurer Freude.“ So sieht sich der Apostel Paulus (2 Kor 1, 23). Die Freude hängt ab von unserer Blickrichtung. Schauen wir immer nur ins Dunkle und lassen uns in sie hineinziehen, dann wächst die Entmutigung. Blicken wir in Richtung des göttlichen Lichtes, dann wächst die Freude. Nicht nur heute, am Sonntag „Gaudete“!