Ein Held meiner Jugend

Predigt am 22.11.2020

Als ich ein Junge war – so etwa 12,14,15 Jahre alt –, saß ich meistens hinter den Büchern. Aber viele Samstage waren anders. Da fuhren wir Jungs oft Altpapier. Und das taten wir, weil es einen Mann in unserem Stadtteil gab, der ein großes Herz für die Mission hatte. Ihm will ich hier ein kleines Denkmal setzen! Er war von Beruf Oberverwaltungsrat bei der Sparkasse, eigentlich ein „typischer Beamter“: korrekt, penibel, preußisch. Aktiv in der Gemeinde, Mitglied im Kirchenvorstand. So um die 60. Seine Ehe war kinderlos. Er konnte keine Enkelkinder spazieren fahren. Stattdessen dachte er an die Armen. Alle zwei, drei Wochen trieb er einen Lastwagen auf, und ein halbes Dutzend Jungs sprang unentwegt runter vom Wagen und wieder rauf und sammelte Altpapier ein. In den 60er Jahren gab es dafür einiges Geld, und das floss nach Afrika – in die Mission. Wir machten da sehr gern mit, hatten richtig Spaß am Sammeln, und mein Interesse an Afrika hat da wahrscheinlich angefangen.

Dieser ältere Herr – Emil Matthay – tat etwas, was ich ansonsten in meiner Kindheit und Jugend kaum erlebte. Alle Leute schienen sich ziemlich ausschließlich um ihre Familien zu kümmern – und hatten damit auch alle Hände voll zu tun. Hier auf dem Lastwagen erfuhr ich zum ersten Mal hautnah, dass es auch „die Anderen“ gibt: die Armen, die Hungernden, die „Geringsten“ des Evangeliums, die ich im Alltagsleben unseres Wirtschaftswunderlandes kaum wahrnahm. Und dass man im „Nahbereich“, in den Straßen meines Stadtteils Essen-Steele, weltweit handeln kann. Schon als Zwölfjähriger. Für Menschen in Afrika. Mittels Altpapier.

Hätte man mich damals gefragt: Bist du schon mal einem wirklichen Christen begegnet? hätte ich geantwortet: Ja klar – z.B. Emil Matthay.

Ja, war das Christsein pur – oder „nur“ soziales mitmenschliches Engagement, wie es auch „die anderen“ hinkriegen? Ähnliches machen ja – Gott sei Dank, wir sollten mit ihnen eine „große Koalition“ bilden -, auch die Arbeiterwohlfahrt oder Bürgerinitiativen und überhaupt alle, die man heute oft zynisch – abwertend als „Gutmenschen“ bezeichnet. Gutmenschen: naiv, nervig, mit ständig schlechtem Gewissen, das sie mit irgendwelchen „guten Taten“ beruhigen müssen? Gutmenschen: heruntergemacht, lächerlich gemacht von den Knallharten, die ihrerseits nur an sich selber denken, ans Fortkommen, an Spaß und Erfolg?

Ist das fürs Christsein wesentlich oder eher nebensächlich: Kranke besuchen, Flüchtlingen helfen, den alten Eltern beistehen, kräftig und spürbar spenden für die Caritas, für MISEREOR oder für die Welthungerhilfe? Sich Zeit nehmen für die, die ein Ohr brauchen, die niemanden haben, der ihnen zuhört?

Sie wissen oder ahnen die Antwort: Ja, es ist wesentlich. Es ist nicht nebensächlich. Jesus hat es hier im Evangelium zur wesentlichsten Sache des Lebens erklärt. Es sind die Fragen im Weltgericht – da, wo wir Antwort geben über unser Leben, über unser Tun und Lassen, über unsere Verantwortung für unsere Welt. Gott fragt uns da nicht nach unseren Erfolgen. Er fragt auch nicht nach dem richtigen Gebetbuch. Er fragt, ob wir Hungrige gespeist oder Kranke besucht haben.

Sicher ist Matthäus hier einseitig. Im Ganzen des Neuen Testaments gibt es ja verschiedene Antworten darauf, was für den Glauben und überhaupt für das Leben wesentlich ist – z.B. „den Willen Gottes tun“, oder „sich zu Jesus bekennen“, „mit Jesus verbunden sein“. Darauf kommt es an! Aber daraus haben manche von den ersten Christen schon damals falsche Schlüsse gezogen. Sie fühlten sich durch den Glauben schon sozusagen „im siebten Himmel“, lebten nur noch mit dem Blick nach oben – und schauten nicht mehr nach rechts und links, sahen nicht mehr die Erde und ihre Leiden, übersahen die anderen. Gottes- und Nächstenliebe fielen bei ihnen auseinander. Ein Schriftsteller aus dem Ruhrgebiet hat damals in den 60er Jahren einen frechen Vers an uns Christen adressiert, an dem etwas Wahres dran ist: Glotzt nicht beim Loben immer nach oben. Schaut mal zur Seite – dann seht ihr die Pleite!

Dieser weltabgewandte Himmelsblick ist dem Matthäus ganz fern. Gott ist nicht einfach „oben“. Gott ist „mittendrin“. Gott ist auch in den Armen, den Hungrigen, den Kranken. Da kommt er uns entgegen. Ausgerechnet da! Der wichtigste und folgenreichste Satz unseres Evangeliums ist sicher: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder und Schwestern getan habt, das habt ihr mir getan! Schon Kinder hören am Martinsfest davon. Martin teilt seinen Mantel mit einem frierenden Bettler, den die anderen Soldaten alle übersehen haben. Als Martin sich danach zum Schlafen niederlegt, hört er im Traum Jesus sagen: Danke, Martin! Danke wofür? Weil du mir – mir! – von deinem Mantel gegeben hast! Was du dem Bettler getan hast, hast du mir getan!

Das ist Christentum pur: Glaube und Liebe sind eins. Das eine kann ohne das andere nicht sein. Man kann nicht für die Wahrheit des Glaubens einstehen, indem man andere übersieht, verachtet, heruntermacht und hasst. Man hätte früher niemals blutige Kreuzzüge machen dürfen für den wahren Glauben! Man braucht überhaupt keine Züge und Prozessionen und Demonstrationen zu machen. Man soll einfach nur - still und ohne Klamauk – hingehen, rausgehen – ins Krankenzimmer, ins Flüchtlingsheim, ins Leben von Menschen, die arm dran sind. Man soll mit offenen Augen sehen – und nicht Menschen übersehen. Vielleicht kann man sich sogar mit ihnen, den Armen, anfreunden – und durch sie bereichert werden.

Aber niemand soll sich durch das Evangelium überfordert fühlen: Was soll ich denn noch alles tun? Niemand muss die Mutter Teresa spielen. Stress und Angst vor dem Weltgericht wollte Jesus ganz bestimmt nicht bei den Leuten wecken. Er will ermuntern, er will „motivieren“, er will Freude wachrufen, sich für das Gute, für die Wege der Barmherzigkeit zu entscheiden. Für die Wege, die Gott selber gegangen ist. Denn – wie ein großer Theologe, Hans Urs von Balthasar, gesagt hat: Das Sakrament des Bruder- und Schwesterseins wird vor der Kirchentür gespendet. Draußen, mitten in der Stadt, auf der Straße. Mitten im Leben.