Lichtschalter Liebe

Predigt am 25.10.2020

„Liebe – und die Welt ist im Licht.“ So ähnlich sagt das eine Schriftstellerin (Eva Demski) in ihren Lebenserinnerungen. Als ihr Liebster starb, ging für sie das Licht aus. Die Welt war nicht mehr im Licht. Es war – erstmal – nur Dunkelheit und Nacht.
Liebe also ist wie ein Lichtschalter. Durch sie wird es in meinem Leben hell oder dunkel. Durch sie erscheint die Welt warm oder lauwarm oder kalt.

Wir sind jetzt in kalte Zeiten hineingeraten, Coronazeiten. Da hat die Liebe es schwer. Der andere bleibt auf Abstand. Manche bleiben unsichtbar – etwa die Alten in den Seniorenheimen. Andere, die auf uns zukommen, wirken wie eine Bedrohung: „Der steckt mich doch wohl nicht an?“ Verdacht überall. Sich vom Leibe bleiben – als oberste Devise – das heißt: Wir finden den Lichtschalter kaum noch, in der Dunkelheit.

So ist Menschsein nicht gedacht. Von Anfang an sind wir Menschen aufeinander angewiesen. Mutter und Vater sind für das Kind da. Im Erwachsenenleben „ist es nicht gut, dass der Mensch allein ist“ – so heißt es schon auf Seite 2 der Bibel. Ehe und Familie stehen für Geben und Nehmen. Wir sind aufeinander verwiesen. So sind wir geschaffen. Niemand ist eine Insel! Und im Alter, in der Schwäche, an der Grenze dürfen wir uns ein Stück fallenlassen in die Liebe der anderen. Jeder nur für sich, ohne Geben und Nehmen – das wäre schrecklich! Der Lichtschalter wäre weithin oder immer ausgeschaltet.

Am Anfang der Welt sprach Gott: Es werde Licht! Er bediente als erster den Lichtschalter, er brachte das Licht der Liebe in die Welt. Er hat wohl die Welt aus Liebe geschaffen. Er wollte ein Gegenüber, das er lieben kann. So wie eine Tür an zwei Angeln hängt, so hängt unser Leben, unsere Moral, oder wie Jesus sagt, so hängt das ganze Gesetz samt den Propheten an dieser Liebe. An diesem Gebot der Gottes- und Nächstenliebe.

Aber Gebot allein ist zu wenig. Man kann Liebe nicht herbei befehlen, kann sie nicht zwingen. Man muss sie in sich haben, in sich spüren. Sie muss in einem leben. Wie kann sie das? Weil wir immer schon geliebt sind. Wir können nur geben, was wir empfangen haben.

Stellen wir uns ein Baby vor. Ich denke an mein zweites Enkelkind, das gerade mal ein halbes Jahr alt ist. Der Kleine hat seine Eltern ganz schön im Griff. Sie stehen nachts auf, wenn er schreit. Sie geben ihm, was er braucht, sie tragen ihn herum und sind viel mit ihm im Körperkontakt. Das Kind dürfte spüren, das es von Liebe umgeben ist – einer Liebe, die sich nicht nur im Kuscheln und in der Zärtlichkeit äußert, sondern auch in den „härteren Dingen“, im Saubermachen oder Aufräumen, – in dem, was der andere braucht. Liebe ist nicht immer nur: Schmetterlingsgefühle im Bauch, zärtliche Empfindungen. Liebe ist viel mehr: Tun des Notwendigen. Die Geschichte vom barmherzigen Samariter erzählt davon. Der durchreisende Samariter, also Ausländer verliebt sich nicht in den ausgeraubten Verletzten, der am Wege liegt. Er hat gar nicht die Zeit dazu. Er tut, was zu tun ist. Nächstenliebe ist meistens ganz nüchtern. Tun, was zu tun ist. Die Windeln wechseln, oder den Mülleimer nach unten bringen.

Wer so – auf diese Weise, und oft mit einem großen Schuss Zärtlichkeit dazu – aufwächst, der „lernt die Liebe“. Der kann Liebe mit Liebe beantworten. Liebe ist in der Regel eine Antwort. Ich werde geliebt – und also bin ich und liebe ich, schrieb der große Kirchenlehrer Augustinus.

Mit der Nächstenliebe haben wir denkerisch in der Regel kein Problem. Sie leuchtet ein. Schwieriger ist es mit der praktischen Ausführung – wegen Bequemlichkeit oder mangelnder Aufmerksamkeit, oder Angst vor den Konsequenzen. Der frühere Bischof Kamphaus von Limburg erzählt: „Im Kreis Jugendlicher, die sich auf die Firmung vorbereiten, frage ich: „Worauf kommt es an im Christentum?“ Die einhellige Antwort: „Auf die Nächstenliebe!“ „Ist das alles?“, frage ich weiter. Schweigen im Walde. Ich habe kaum erlebt, dass jemand die Gottesliebe genannt hätte.

Ja, Christsein heißt für die meisten: Nächstenliebe, und das ist es dann auch schon. Anders bei Jesus. Bei ihm fängt es an mit der ausdrücklichen Weisung: Du sollst den Herrn, deinen Gott lieben! Das ist das wichtigste und erste Gebot!
Mancher mag denken: Gott begegnen wir im Nächsten. Wo denn sonst? Den Nächsten zu lieben und Gott zu lieben – fällt das nicht zusammen, ist das nicht eins? Für Jesus ist es nicht so. Er spricht von zweien und hält beides auseinander: Gott ist Gott, und Mensch ist Mensch. „Mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit allen Gedanken“, mit ganzer Kraft also sollen und dürfen wir Gott lieben. Nicht nur so nebenbei, nicht nur mit den spärlichen Resten an Interesse und Zeit, nicht nur mit dem, was übrigbleibt, wenn alles gelaufen ist.

Wahrscheinlich macht das die Krise des heutigen Christentums in Europa aus, dass auch viele Christen mit der Gottesliebe nicht mehr viel anfangen können. Sie bleibt ihnen fremd.

Wie geht es Ihnen mit der Gottesliebe?
Für mich ist Gottesliebe zuallererst: Gottes Liebe zu mir, zu uns Menschen. Liebe, die uns bejaht, die uns trägt, die befreit – aus dem Egoismus, aus dem ständigen Kreisen um sich selbst. Liebe, die vergibt. Liebe, die nicht aufhört, die auch der Tod nicht beenden kann. Für all das steht Jesus Christus – mit ganzem Einsatz, mit der Hingabe seines eigenen Lebens, mit dem Kreuz. Er hat dieser göttlichen Liebe sozusagen ein menschliches Gesicht gegeben!

Gottesliebe heißt für mich: Ich betrachte das, was Gott mir gibt und mitgibt, als ein großes Geschenk, als eine Quelle, als Gnade, die ich nicht verdienen kann. Null Euro, nicht bezahlbar! Mein Leben ist getragen! Ich möchte für dieses grundlegende Geschenk immer wieder neu Danke sagen: „Von wem anders als von Gott ist der erfüllt, der von Liebe erfüllt ist“, schreibt Augustinus. Ich möchte also eine Antwort finden auf Gott – und in diese Antwort nehme ich meine Nöte und Zweifel, meine Hoffnungen und Freuden, kurz: mein Leben mit hinein. So gut ich's kann. „Beten“ könnte man das nennen. Eine Antwort finden. Immer neu im Licht sein.