Erntedank

Predigt am 04.10.2020

Ein Vater – in Coronazeiten im Homeoffice – hat Mühe, seinen kleinen Sohn zu beschäftigen. Der Junge kommt immer wieder zum Vater ins Arbeitszimmer, um zu spielen. Da fällt dem Vater etwas ein. In einer Zeitung hat er eine Weltkarte gesehen. Er zerreißt sie in viele Teile und lässt sie den Sohn wieder zusammensetzen. Mit dieser Art Puzzle hofft er, ihn längere Zeit ruhig zu halten. Doch es dauert gar nicht lange, da hat der Bub alles fertig zusammengesetzt. Erstaunt fragt der Vater, wie er das so schnell geschafft hat. Da sagt der Sohn: „Auf der Rückseite der Weltkarte ist ein Mensch zu sehen. Da habe ich zuerst den Menschen zusammengesetzt. Und als der Mensch wieder ganz war, war auch die Welt wieder in Ordnung.“

Der Junge kennt schon gut das Leben: Wo der Mensch ganz ist, ist auch die Welt in Ordnung. Wo der Mensch zerrissen wird, ist auch die Welt zerrissen. Das Evangelium liefert davon eine Kostprobe. Die Pächter bzw. Winzer im Gleichnis wirken sehr zerrissen: Neid, Gier, Bosheit und Faulheit führen zu Prügel, zu Gewalt und schließlich zum Mord. Die Pächter denken: Der Eigentümer ist weit weg – wir sind selbst die eigentlichen Herren! Der Weinberg gehört uns, ist in unseren Händen! Sie kämen gar nicht darauf, für die Früchte zu danken. Diese Selbstüberschätzung, Gier und fehlende Dankbarkeit lässt da im Herzen schlimme Früchte wachsen: Brutalität und Mord. Das zerreißt die Welt.

Aber das Danken hält zusammen. Es verbindet. Verbindet uns mit der Welt, mit ih-ren guten Kräften; es gliedert uns ein und zieht uns nicht ab. Am Erntedanktag können wir das ausprobieren. Da sehen wir in der Kirche oft vor dem Altar die schöne Dekoration der Früchte der Erde: Obst, Gemüse, Kohlköpfe, Tomaten, Gurken und vieles mehr liegen beieinander und streiten nicht. Keine Frucht bläht sich auf Kosten einer anderen auf; sie ergänzen sich, ergeben ein buntes und vielfältiges Ganzes. Sie schmecken, stillen unseren Hunger, sind Abbild einer guten Natur, stehen für Gesundheit und Gottes Schöpfung. Wortlos sprechen sie von der Schönheit der Welt.

Diese Früchte lassen uns auf eine Seite der Welt und der Menschen schauen, die uns guttut und die wir für ein erfülltes Leben brauchen. Was die Nahrung betrifft, leben wir in unserem Land – Gott sei Dank – im Überfluss. Alles ist überreich da! Deshalb jedoch erscheint uns vieles allzu selbstverständlich – als hätten wir einen Anspruch darauf. So kommen viele gar nicht mehr auf die Idee zu danken, sie bezahlen ja für die Dinge, finden alles im Supermarkt fertig verpackt, haben manchmal die schlimmen Bilder vor Augen aus der Fleischindustrie oder Berichte im Kopf über Pestizide und Vergiftung in der Landwirtschaft. „Im Märzen der Bauer die Rösslein einspannt“ – diese schönen traditionellen Bilder stellen sich nicht mehr ein. Das war einmal.

Und dennoch: Ohne die Früchte der Erde und der menschlichen Arbeit bricht alles zusammen. Die Erntegaben stehen für unsere Lebensgrundlagen. Dass jeder genug zum Essen hat, ist ein unverzichtbarer Eckstein, ein Grundrecht jeder Gesellschaft. Es ist gut und wichtig, wenn wir die Natur mit ihren Gaben lieben und pflegen und nutzen und schützen – das Wort BIO darf nicht bloß ein modisches abgegriffenes Etikett sein.

Der Erntedanksonntag ist kein Tag zum Moralisieren und Schwarzmalen. Der Raubbau an der Natur und der Klimawandel sollen heute kein Thema sein. Erntedank ist wirklich ein Tag fürs Danke-Sagen. Wir dürfen danken für die Menschen, die immer wieder aufs Neue gute Ernten liefern, und dass uns Früchte und Speisen in einer unglaublichen Vielfalt zur Verfügung stehen. Wir dürfen Gott danken, denn „er gibt uns Speise zur rechten Zeit“. Das Tischgebet des englischen Staatsmanns Oliver Cromwell lautete: „Herr, es gibt Menschen, die haben Hunger, aber nichts zu essen. Und es gibt Menschen, die haben genug zu essen, aber keinen Hunger. Ich habe beides. Dafür danke ich dir!“ Es ist klug, auch für den Hunger, für den Appetit zu danken – dafür, dass wir nicht übersättigt sind.

Wir dürfen dankbar sein, ohne jene zu vergessen, die in großen Teilen der Welt hungern. Oft ist es so, dass ihnen durch Ausbeutung und Gier, Terror, Bosheit und politisches Kalkül vorenthalten wird, was sie zum Leben, zum Essen und Trinken brauchen. In vielen Ländern ist das Gleichnis der Pächter aus dem Evangelium brutale Gegenwart. Die Pächter, die Machthaber wissen nicht mehr, dass ihnen alles nur geliehen ist – und dass sie die soziale Ordnung und das Menschsein „zerreißen“.

Der Dichter Max Frisch meint in seinem Tagebuch, es wäre gut, jährlich eine Liste der Dankbarkeiten zu führen. Er stellt dann für sich eine lange Liste zusammen, wofür er danken möchte. Ja, auf so etwas Ähnliches kann uns der heutige Tag bringen. Eine lange Liste des Danks könnte in uns entstehen. Die wäre sehr hilfreich, gerade wenn vieles in uns innerlich und äußerlich zu zerreißen droht. So könnten wir unsere Welt mehr ins Gleichgewicht bringen und die Ganzheit erkennen, in der wir leben. Dieser Blick auf das Ganze, hin auf den Schöpfer, heilt und weitet. Er macht uns innerlich gelassener und erinnert uns an den Jungen, der anfangs zu seinem Vater sagte: Wo der Mensch ganz ist, ist auch die Welt wieder in Ordnung.