Gott steigt ab

Predigt am 27.09.2020

Gott steigt ab. Damit war nicht zu rechnen: Dass einer von oben kam. Die oben blieben immer oben. Und da kommt einer und steigt hinab. Wo doch sonst so ziemlich alle sich abmühen, aufzusteigen, nach oben zu kommen, Sprosse um Sprosse höher zu klettern auf der Lebensleiter. Der eine, der einzige will nach unten. Es gibt Gegenverkehr auf der Sprossenwand, auf der Karriereleiter. Wo Menschen hoch hinauswollen – da wechselt einer, Jesus, freiwillig, aus sich selbst heraus die Richtung.

Damit war wirklich nicht zu rechnen. Dass einer nicht krampfhaft festhielt, was er hatte. Dass einer nicht seinen Besitzstand und seinen Status verteidigte, sondern losließ. Alles losließ – seine Heimat, seine Position, sich selbst. Er war wie Gott, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein, sondern er entäußerte sich, machte sich klein. Paulus singt ein Loblied, einen Hymnus auf diesen einen.

Aber wer kann wirklich mit einstimmen in diesen Hymnus, in diesen Lobgesang des Paulus auf den Weg Christi nach unten? Wer ist da, der diesen Weg mitgehen will? Wer ist da, der die Komfortzonen verlässt und zu den „Rändern“ geht, von denen unser Papst Franziskus immer wieder spricht?

Es singt sich so schön, dieses Lied von dem Christus, der hinabsteigt zu uns Menschen und uns ganz nah kommt. Es singt sich so leicht, dieses Lied vom abstiegsbereiten Gott, der die „Himmelspaläste“ verlässt und sie eintauscht mit unseren irdischen Häusern und Hütten, mit dem Staub der Straßen, mit Krankheit und Elend und Kreuz und Tod. Es singt sich so leicht.

Doch der, den Paulus besingt, hält nicht an – an der Sprosse der Lebensleiter, an die wir uns gerade klammern. Wir, die Gesicherten – trotz Corona und allem. Er streift uns vielleicht auf der Leiter: Er – herunter, wir – herauf. Er hält nicht an, um der Gott unserer Wünsche zu werden. Es ist ihm noch nicht tief genug. Sein Abstieg geht weiter. Und alle unsere irdischen Hütten und Häuser sind ihm noch zu fest ummauert. Er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave. Ohne ein Dach überm Kopf, ohne festen Wohnsitz, sagt er von sich: Der Menschensohn hat nicht einmal einen Stein zu eigen, um sein Haupt darauf zu legen.

So streift er uns. So wirft er seinen Gottesschatten über unser Leben: über unser ängstliches Klammern und zögerndes Klettern, über unser alltägliches Fragen und Mühen. Auch über unsere Abstiegsangst und die Verlustängste, die Furcht vor dem Niedergang, vor dem Weniger werden, auch vor dem Altwerden. Und doch lässt er uns hinter sich. Oder besser: über sich. Auf der Leiter des Lebens steigt – oder klettert – er an uns vorbei, abwärts, in Gegenrichtung: Er wagt es, in die Tiefe zu gehen. Er nimmt dann den „letzten Platz“ ein, den die Welt zu vergeben hat – festgenagelt am Kreuz. Das Kreuz ist das Allerletzte! Er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz.

Er – auf dem letzten Platz. Das heißt: wir deutlich drüber. Auf einmal sind wir „über ihm“, auf den besseren Plätzen! Keine Sklaven, sondern eher bei den Freien und den Herren der Welt.

Was kann ein Gott uns nützen, der so absteigt ins Menschliche und in die Welt hinein, dass er förmlich „unter uns“ ist – eben am letzten Platz? Der die Dinge so auf den Kopf stellt? Das ist die eigentliche Gottesfrage, die in mir zu nagen beginnt. Nicht die Frage ist es nach einem fernen allmächtigen Himmelsherrgott, der weit über mir ist. Die Gottesfrage, die mich beschäftigt, ist die nach dem Gott, der sich die Tiefe und das Niedrige aussucht als Wohnung, der sich aus eigenem Antrieb kleiner und schwächer macht, als ich selbst es bin. Der sich, kurz gesagt, ans Kreuz schlagen lässt.

Schau ihn dir an, antwortet Paulus in meine Fragen hinein. Schau ihn dir an, deinen Gott, wie er seinen Weg in die Tiefe geht: Er war gehorsam – bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz. Er war gehorsam, er hörte hin. Das Wort gehorsam kommt vom Hören, vom Hinhören. Er hörte hinein in das Leben. In der Gegenrichtung auf der Lebensleiter hat er am Leben gehorcht, er hat es gesucht und gefunden – das Leben in Fülle, das Leben, so arm und doch so reich. Selbst dort, wo Menschenwelten zusammenbrechen – wie jetzt in der Pandemie – und Lebensleitern umkippen. Tiefer und tiefer ist er gestiegen, – so ähnlich wie ein Rettungstrupp, der nach verschütteten Bergleuten sucht, tief in der Erde, und nicht aufhört, nach Klopfzeichen, nach Lebenszeichen zu horchen.

Christus, so antwortet mir Paulus, hörte auf das Leben, war dem Leben hörig bis in den Tod hinein. Daran hielt Jesus fest: Überall diesen Ton des Lebens zu entdecken und zu wecken. Selbst im eigenen Tod am Kreuz hat er noch hörend den Ton des Lebens gesucht – und hat ihn gefunden.
Darum hat ihn Gott über alle erhöht – damit alle im Himmel, auf der Erde und unter der Erde ihre Knie beugen vor dem Namen Jesu.
Auch damit war nicht zu rechnen. Dass er, der abstieg, wieder Höhenluft atmet. Dass der Absteiger nicht im ewigen Vergessen verschwindet. Dass er noch in der Tiefe das Leben findet. Dass eine Hoffnung und Zuversicht wach wird auf ewiges Leben. In allem Leid dieser Welt, ganz unten, steigt diese Hoffnung nun auf in seinem Namen. Ein ewiges Klopf-Zeichen des Lebens.

Das aber ist ein Loblied wert – im Himmel, auf der Erde und unter der Erde!