Siebenundsiebzig mal

Predigt am 13.098.2020

Die Indianer haben schöne Geschichten. Eine geht so: Ein alter Indianer sitzt mit seinem Sohn am Lagerfeuer und spricht: "Mein Sohn, in jedem von uns tobt ein Kampf zwischen zwei Wölfen. Der eine Wolf ist böse. Er steht für Neid, Eifersucht, Gier, Lügen, Überheblichkeit und Groll. Der andere Wolf ist gut. Er steht für Güte, Gelassenheit, Mitgefühl, Dankbarkeit, Vergeben und Vertrauen." Der Sohn fragt: "Und welcher der beiden Wölfe gewinnt?" Der alte Indianer schweigt eine Weile. Dann sagt er: "Der, den du am meisten fütterst!"

Welchen Wolf in sich füttert man so, tagaus, tagein? Den ersten, wenn ich morgens aufstehe mit den Gedanken: So ein blöder Tag! Nichts los heute. Kannst du alles vergessen. Und dann das Treffen mit diesen bescheuerten Leuten! Stehlen einem nur die Zeit.
Den zweiten, den guten, füttere ich, wenn ich stattdessen denke: Lass mal alles auf dich zukommen! Wer weiß, wozu es gut ist. Und bei dem Treffen versuch ich herauszukriegen, warum ich immer noch so sauer bin. Vielleicht liegt es ja auch an mir.
Morgens, beim Aufstehen, kann es sich schon entscheiden, ob am Tag der Groll oder die Vergebung gewinnt.

Vergebung ist ein sehr großes Wort. Die kleinen Alltagsvergebungen kriege ich vielleicht ja noch hin. Das herausgerutschte gegen mich gerichtete böse Wort, die spitze Bemerkung hier und das Tratschmaul dort – Schwamm drüber! Was kümmert es den Mond, wenn ein Hund ihn anbellt? Aber dann das wirklich Schlimme: die großen Konflikte und Kränkungen, die mit durchs ganze Leben gehen. Die Stellen, wo es richtig weh tut: Das Gefühl von der Kindheit her, unerwünscht und ungeliebt zu sein. Missbrauch in jungen Jahren. Eine Riesenenttäuschung in der Ehe. Ständiges Mobbing im Beruf. Siebenundsiebzigmal vergeben? Grenzenlos, bedingungslos? Alles vergeben, alles vergessen? Bin ich denn der liebe Gott?

Nein, bin ich nicht. Ich bin ich. Aber das heißt auch: Kind Gottes. Ein auf Gott bezogener Mensch. Vielleicht spucke ich Gift und Galle gegen ein Unrecht und die Übeltäter, und alles bäumt sich in mir auf. Ich kann das nicht vergeben – nicht aus mir heraus! Aber – mit Gott, aus Ihm heraus? Im Blick auf Ihn, mit seiner Hilfe? Ich stärke mich auf diesem Weg mit Beispielen und Geschichten. Eine Spruchkarte fällt mir ein, mit dem Satz: "Unser Glaube lebt vom Übergewicht der Vergebung Gottes!" Ich weiß, was Übergewicht ist, leider. Da kenne ich mich sehr gut aus. Es wiegt schwer. Aber dieses Übergewicht der göttlichen Vergebung – fällt es bei meinen Konflikten In die Waagschale? Das Gleichnis Jesu spricht von zehntausend Talenten an erlassener Schuld. Eine unvorstellbar große Summe – in Summe die Monatsgehälter einer ganzen Großstadt! Weiß Gott sehr übergewichtig! An Großzügig-keit nicht zu überbieten!

Die schönste Geschichte – eine wahre dazu – hat Guy Gilbert erzählt bei der Hochzeit des belgischen Kronprinzenpaares 2007 in Brüssel. Gilbert, ein in Frankreich sehr bekannter Priester für Rocker und schwierige Jugendliche, ist mit dem prominenten Hochzeitspaar befreundet. Er sagte in seiner Predigt: "Ein junger Mann, Jean, hatte seine Eltern schwer beleidigt und ihren guten Ruf beschädigt. Der Vater, ein Bauer mit großen Obstbaumfeldern, warf ihn hinaus und verbot ihm das Haus. Und Jean ging, den Tod im Herzen. Wochen später hielt er den Konflikt nicht mehr aus und schrieb dem Vater, bat um Vergebung. Aber er hatte solche Angst, zurückgewiesen zu werden, dass er den Eltern nicht direkt unter die Augen zu treten wagte, sondern ein Zeichen vorschlug. "Ich fahre am Haus vorbei. Wenn du mir vergeben kannst und mich wiedersehen willst, dann häng ein weißes Tuch an den Apfelbaum direkt vorm Haus!" Seinen Freund Marc bat er, ihn bei der Fahrt zu begleiten.

"Wenn wir an die Allee mit unseren Apfelbäumen kommen, werde ich die Augen schließen. Und du hältst den Wagen an und sagst mir, was ist. Wenn ein weißes Tuch am letzten Baum hängt, renne ich ins Haus. Wenn nicht, werde ich niemals zurückkehren!" Gesagt, getan! Die beiden fuhren los, und in der Nähe des Elternhauses, bei der Durchfahrt durch die Allee, schloss Jean die Augen. Vor dem letzten Baum fragte er den Freund: "Marc, was ist? Hängt das weiße Tuch am Baum?" "Nein, nein, Jean, "gab Marc zurück, "in dem Baum sehe ich kein Tuch – aber Hunderte, längs der Allee." Und Gilbert schloss: "Schwestern und Brüder, nehmt die weißen Tücher in Eurem Herzen mit – und seid Menschen der Vergebung und Barmherzigkeit!"

Zehntausend Talente, Hunderte Tücher. Übergewicht der Vergebung. Gebe Gott, dass wir über alles Enge und Kleinliche hinauswachsen. Die Vergebung ist der Weg.