Was uns heilig ist

Fronleichnam 11.06.2020

Eine berühmte Geschichte aus dem alten Rom: Es ist die Zeit der Christenverfolgungen. Christ zu sein – das ist höchst gefährlich. Die Gemeinde trifft sich heimlich, sozusagen im Untergrund. Zu ihr gehört ein zwölfjähriger Junge – Tarzisius. Er hatte sich bereitgefunden, die heilige Kommunion quer durch die Stadt zu bringen – ins Gefängnis. Dort kannte er einen Wärter, der sie an die christlichen Gefangenen weitergeben wollte. Ein gefährlicher Auftrag! Unterwegs wurde Tarzisius von einigen Halbstarken angegriffen. Zeig her, was du da unter deiner Toga versteckst! Sie würden, da war er sicher, mit der Kommunion ihr Spielchen machen und ihren Spaß haben. Sie würden die Hostien in den Dreck werfen, auf ihnen herumtrampeln – auf diesem verhassten Geheimzeichen der Christen. Tarzisius wehrte sie ab, er gab die Kommunion nicht heraus – und wurde von einem Stein getroffen. Tödlich. Eine alte Inschrift aus dem dritten Jahrhundert erinnert in Rom an diesen jungen Christusträger.

Warum tat Tarzisius das so, warum setzte er sich solcher Gefahr aus? Warum tat er nicht, was die anderen von ihm verlangten? Ich denke, er hatte einen tiefen Sinn für das Heilige. Er wollte es hüten und schützen. Es sollte nicht durch den Schmutz gezogen, nicht einmal dreckigen Bemerkungen ausgesetzt werden. Es sollte heilig gehalten werden. In diesem Fall war das Heilige ja sogar das Allerheiligste, wie wir die Kommunion, den Leib Christi im Brot ja auch nennen. Das war unantastbar! Da ging man nicht dran! Das war nicht beliebig – in einer Welt, wo sonst alles beliebig war. Der römische Junge ließ sein Leben dafür. Für das Allerheiligste.

Wie ist das bei uns heute? Was ist heilig bei uns? Heute würden junge Kerle wahrscheinlich ausrasten, wenn ihre Mutter von anderen beleidigt wird. Und junge Muslime, wenn man schlecht über Allah redet. Ansonsten würden die meisten in unserer westlichen Kultur wohl sagen: Das Leben ist heilig. Die Würde des Menschen ist unantastbar, sagt das Grundgesetz. Unantastbar – heilig. Aber dann hört man die Nachrichten: Flüchtlinge wieder im Mittelmeer ertrunken. Kinderpornografie mit Hunderttausenden Filmchen. Abtreibungen ohne Ende. Ein Name für alle: George Floyd, ein Schwarzer in den USA, Todesopfer eines weißen rassistischen Polizisten, der ihn daran hinderte, zu atmen, zu leben. "I can't breathe - Ich kann nicht mehr atmen" - für wieviele Menschen gilt das in ihrem Leben! Das Leben – unantastbar? Schön wär's! Nein, angetastet, entwürdigt, entheiligt. An tausenden Fronten. Überall.

Das Gespür, dass etwas heilig ist und unantastbar, das geht abwärts im freien Fall. Das Leben – heilig? Man manipuliert damit herum. Der Sonntag – heilig? Heruntergekommen zur reinen Freizeit, zum Wochenende. Die Ehe – heilig? Nur noch ein Modell des Zusammenlebens, neben anderen. Die Schöpfung – heilig? Eher ein Steinbruch, aus dem sich jeder bedient.

Ich meine, wir Christen haben sozusagen in unseren Genen noch das Gespür für das Heilige. Für das, was unantastbar ist und über das man nicht einfach und beliebig verfügen kann. Mit dem wir nicht machen dürfen, was wir wollen und können. Für alles, was an ein letztes Geheimnis rührt, an Gott. Dann muss es uns berühren, wenn das Leben anderer kaum etwas gilt, weil sie den falschen Pass oder das falsche Gebetbuch haben. Dann müssen wir auch den Mund aufmachen, wenn es z.B. an den Sonntag geht und die Arbeitszeiten und Öffnungszeiten in Geschäften ausgedehnt werden, weil die Wirtschaft das so will. Wir Christen müssen auch heute das Heilige erkennen und schützen.

Heilig – das sind die Gaben des heiligen Gottes. Meine Mutter hat, wenn sie ein Brot anschnitt, mit dem Messer ein Kreuzzeichen über das Brot gemacht. Das hieß: Brot ist mehr als nur ein Sattmacher für den Magen. Es ist Gottes Gabe, – ist das, was wir zum Leben brauchen. "Unser tägliches Brot gib uns heute!"

Heilig sind die Gaben Gottes. Das Allerheiligste, das wir normalerweise zu Fronleichnam bei einer Prozession durch die Stadt tragen, bedeutet dann: Gott gibt sich selbst. Nicht nur irgendetwas – sondern sich selbst. Das ist eine Liebe, die einen schier schwindelig machen kann! Diese Gabe Gottes hat einen Namen: Jesus Christus. Er ahnt beim letzten Abendmahl, er ahnt am Gründonnerstag seinen nahen Tod. Und dann nimmt er ein Stückchen Brot und sagt: Nehmt und esst! Das ist mein Leib – das bin ich selbst – hingegeben für euch. Ich, der Mensch – für andere. Ich, Gott-für-die-Menschen.

So zu reden, so zu handeln, so zu leben – das ist das Allerheiligste! In einem kleinen Stückchen Brot verdichtet es sich, ist sozusagen "komprimiert" – und wird zu einem sprechenden Zeichen! Wir nehmen es bei der Prozession in unsere Mitte und tragen es durch die Stadt. Nicht eigentlich Es, sondern Ihn! Christus will zu den Menschen getragen werden – auch zu denen, denen er fremd geworden ist – fremd wie Gott.

Hier, in der Messe, an seinem Tisch, stärkt er uns für dieses Tragen in die Welt hinein. Hier trainiert er uns als Christusträger/innen. Wie damals den Tarzisius. Vielleicht haben wir Hemmungen und Ängste und wollen ihn lieber im geschützten sicheren Innen-Raum der Kirchen halten: Christus in den Kirchen, und nicht: Christus in der Welt! Aber Christus "gehört an die frische Luft"! Er bittet uns, ihn in die Stadt zu tragen. Nicht nur in einer Monstranz, sondern im Alltag. Wo einer für den anderen da sein kann. Und die Stadt ein menschliches Gesicht bekommt.