Wo ist der Brunnen gegen den Durst?

Predigt am 15.03.2020

Durst kann ganz schön quälen - schlimmer noch als Hunger. Mich dürstet, sagt Jesus am Kreuz. Man gibt ihm Essig, und es wird noch schlimmer. Wir können dagegen in der Regel unseren Durst löschen, wir brauchen nur die Kühlschranktür aufzumachen.

Es gibt aber einen anderen Durst, der ist so leicht nicht zu löschen. Der Durst nach Leben - nach glücklichem, erfüllten Leben - ist nicht zu stillen. Man kann ihn wohl ruhigstellen. Man kann alle möglichen Durstlöscher einsetzen, alle möglichen Ablenkungen. Aber dieser Hunger, dieser Durst, diese Sehnsucht bricht dann wieder neu durch - man möchte immer mehr. Jeder Wunsch, der in Erfüllung geht, weckt neue Wünsche. "Wer von diesem Wasser trinkt, wird wieder Durst bekommen", sagt Jesus.

Die Menschen dürsten. Damals wie heute. Die Frau am Jakobsbrunnen z.B. hat schon sechs Männer gehabt. Was war das? Rastloser Lebensdurst? Wir wissen es nicht. Wir ahnen nur: Die Frau ist nicht glücklich. Sie findet nicht, was sie sucht. Bis Jesus kommt und mit ihr spricht.

Allein das ist schon ungewöhnlich. Samariter und Juden gehen sich ja aus dem Weg. Ketzer sind das, sagen die Juden. Verräter am Glauben. Und dann noch eine Frau! Mit fremden Frauen spricht man nicht, das ist undenkbar! Das macht man nicht! Die Begegnung da am Brunnen, in der Mittagshitze, steht unter keinem guten Stern. Und doch: Jesus spricht die Frau an, kommt ihr nah und bietet ihr das "lebendige Wasser" an. Lebendiges Wasser? Was soll das denn sein? Denkt die Frau. Keine Ahnung! Aber sie spürt: Er meint es gut! Da geht sie aus sich heraus. Sie "gerät aus der Fassung", aus der engen Fassung, in die die Tradition und Moral sie eingeschnürt hatte. Bei diesem Menschen, bei Jesus, wagt sie sich aus dem Schneckenhaus heraus, aus den Enttäuschungen des Lebens. Im Gespräch mit Jesus erkennt die Frau ihr Leben, ihre Sehnsucht, ihren Durst: "Herr, gib mir dieses Wasser, damit ich keinen Durst mehr haben muss!" Und sie fragt, fragt immer mehr. Es ist so, als würde jetzt in ihr eine Tür aufgehen - eine Tür ins Leben, ins Weite hinein. Sie beginnt, diesem Jesus zu glauben - ja, an ihn zu glauben, den Messias.

Wo geschieht das alles? Am Rand eines Brunnens. Sie stehen oder sitzen am Jakobsbrunnen. In vielen Märchen und Geschichten kommen Brunnen vor. Wie Symbole, die wirklich in die Tiefe führen. Oft ist in den Märchen die Aufforderung zu hören, in den Brunnen hinabzusteigen, sich in die Tiefe zu wagen. Wer das "lebendige Wasser" will, und nicht bloß abgestandenes, fades Wasser, der muss in die eigene Tiefe einsteigen, der kann nicht an der Oberfläche bleiben. Der muss auch seine dunkle Seite, seinen rastlosen Lebensdurst oder seine tiefen Enttäu-schungen, seine innere Unruhe wahrnehmen - das Verdrängte, alles, was in uns "herumspukt" und uns belastet. Und auch heute kann dann ein Mensch "neu werden": Die frische Quelle fängt wieder an zu sprudeln. Und der lebendige Gott zeigt sich einem als "Quelle des Lebens". Schuld, die belastet, vergibt er. Aus innerer Leere, Einsamkeit und Gefühlen der Sinnlosigkeit ruft er heraus. Stattdessen weist er auf neue Aufgaben. Bitteres, das hinter uns liegt, und Enttäuschungen wendet er um und zeigt auf das, was vor uns liegt und neu begonnen werden kann.

Der Maler Sieger Köder hat das in einem seiner Bilder sehr schön dargestellt. Ein tiefer Brunnen ist da zu sehen. Oben steht die Frau allein am Brunnenrand und schaut hinab. Aber unten, im Wasser des Brunnens, spiegeln sich zwei Gesichter: die Frau natürlich - und Jesus!

Die Frau sieht sich im Spiegelbild im Wasser, und sie sieht Jesus, da in der Tiefe ihres Herzens. Er schaut sie an. "Ich weiß um dich", sagt sein Blick. "Ich kenne deine Geschichte. Deine Sehnsucht nach Liebe und Nähe. Deine zerbrochenen Träume. Deine Krisen und dein Unglück. Dein Gefühl: mein Leben ist schiefgelaufen. Deinen Wunsch, endlich auf sicheren Boden zu kommen. Jetzt bin ich da," sagt Jesus. "Jetzt, wo du dein Leben anschaust, im Spiegelbild des Wassers, ganz tief unten im Brunnen, nah an der Quelle. Lass mich diese Quelle sein für dich," sagt Jesus zu der Frau, sagt er zu uns.

Und die Frau versteht. Sie wird dann zu einer Art "Missionarin", die das frisch Erlebte gleich weitersagt, ins Dorf geht und die Leute im Dorf "ansteckt" mit diesem neuen Schwung. Da machen sich die Dorfbewohner auf den Weg zum Brunnen, zu Jesus. Sie wollen ihn sehen und hören. Ausgerechnet in der Fremde, draußen bei den ketzerischen Samaritern, zündet auf einmal der Glaube! Vielleicht zündet er in Zukunft gerade "draußen" wieder, bei den Menschen, die in ihren Krisen und Durststrecken die große Sehnsucht haben - nach einer Quelle, die nicht enttäuscht und nicht versiegt. Und die Leute von damals bekannten: "Er ist der Retter der Welt!"

Hören wir noch, gleichsam als Glaubensbekenntnis, einen Liedtext von heute:

Alle meine Quellen entspringen in dir.
Du bist das Wasser, das mich tränkt
und meine Sehnsucht stillt.

Du bist die Kraft, die Leben schenkt,
eine Quelle, die nie versiegt.
Ströme lebendigen Wassers brechen hervor.

Du bist der Geist, der in uns lebt,
der uns reinigt, der uns heilt und hilft.

Du bist das Wort, das mit uns geht,
das uns trägt und uns die Richtung weist.

Du bist der Glaube, der uns prägt,
der uns stark macht, offen und bereit.

Du bist die Liebe, die befreit und die vergibt,
wenn unser Herz uns anklagt.

Du bist das Licht in aller Dunkelheit,
du erleuchtest unseren Lebensweg.

Du bist das Lamm, das sich erbarmt,
das uns rettet, uns erlöst und liebt.

Alle meine Quellen entspringen in dir.