In den Wüsten von heute

Predigt am 01.03.2020

Der Erzbischof Heiner Koch von Berlin schreibt über das Leben in unserer Hauptstadt: "Es bewegt mich immer wieder, wenn ich höre oder erlebe, dass sich offenbar viele Menschen mitten unter den 3,6 Millionen Einwohnern Berlins einsam fühlen. Sie arbeiten oftmals in höchstem Maße, mit viel Engagement und Herz. Aber die Zeit nach der Arbeit, die freie Zeit des Wochenendes oder des Urlaubs werden für viele zu einer Katastrophe des Alleinseins."
"Ich bin hoch begehrt als Fachkraft," sagte mir ein wichtiger Berliner Manager, "aber wie es mir persönlich geht, interessiert hier keinen. Ich weiß nicht, ob mich jemand besuchen würde, wenn ich mal ernsthaft krank wäre."

Die großen Städte wie Berlin mit ihrer Anonymität erinnern mich an die Wüste im Sinne der Bibel. Wüste meint hier nicht: riesige Sand und Steinhaufen. Wüste ist hier eine Seelenlandschaft. Da ist der Mensch ganz auf sich zurückgeworfen und ziemlich allein. Er ist nicht da, wo er sein möchte. Und es ist nicht so, wie es sein sollte. Der Mensch in der Seelen-Wüste ist in der Krise. Sein Leben steht für ihn auf dem Prüfstand: Wo will ich hin? Und da kommen die Gegenstimmen: Hör auf. Es hat doch keinen Zweck. Lass es sein.

Wüste, das sind schwierige Lebensphasen. Und Gott scheint fern zu sein. Wüste, das sind Phasen und Räume im Leben, die nicht menschenfreundlich sind, die keine Heimat sein können. Manche erleben zurzeit auch die Kirche wie einen Wüsten-Raum, der von Skandalen erschüttert ist, der keine Zukunft bietet, der auch nicht besser ist als der Rest der Welt.

Aber "Wüste" ist nicht "Hölle". Wüste ist nicht hoffnungslos. Sie ist nur ein Abschnitt, ein Durchgang, eine Phase im Leben. Eine Zeit der Erprobung, der Klärung und der Krise. Nicht besonders gemütlich und leicht. Aber auch nicht endlos, für immer.

Ich finde es ermutigend, dass Jesus seinen öffentlichen Weg in der Wüste beginnt. Er flieht die Wüste nicht, macht keinen Bogen um sie. Er sucht sie auf. Er geht auf Gott zu, auch in der Wüste.

Die Hörer von damals, die bibelfester waren als wir heute, erinnerten sich bei diesem Evangelium ganz sicher an die Wüstenwanderung des Volkes Israel. Jesus war 40 Tage in der Wüste - das Volk 40 Jahre! Das Ziel des Volkes war damals klar: das "Gelobte Land" voller Milch und Honig. Aber das Ziel war so fern und nicht in Sicht! Und so verblasste das Ziel, und so geriet der mitgehende Gott aus dem Blick. Gottvergessen irrte das Volk in der Wüste herum, suchte und fand nicht. Es murrte und schimpfte und wollte wieder zurück nach Ägypten. Da war zwar Sklaverei, aber die Töpfe waren voll, da hatte man genug zu essen. Die Wüstenzeit war wirklich eine riesige Herausforderung!

Matthäus beschreibt die Wüste als Ort der Versuchung. Zwei Kräfte wirken dort auf Jesus ein, die im Kampf miteinander liegen: der Heilige Geist auf der einen und der Teufel auf der anderen Seite. Man mag diese Gegenspieler auch anders nennen, aber ihre Kraft kennen wir gerade heute allzu gut! Sie ziehen uns hin und her, wenn wir uns entscheiden müssen, wenn es um wirklich wichtige Dinge geht. Der Geist, der Jesus in die Wüste führt, lässt uns aufschauen, richtet uns auf, zieht uns "nach oben", ermutigt uns und macht uns gerade. Die Gegenkraft zieht uns herunter, macht uns nieder, vergiftet die menschlichen Beziehungen und heißt darum "diabolos", Teufel: der, der alles verwirrt und durcheinanderbringt. Die diabolische Macht, die unser Herz spaltet, so dass wir kaum noch "mit ganzem Herzen" leben und handeln.

Dreimal wird Jesus von diesem tückischen Gegner versucht. Bedrängend ist vor allem die letzte Versuchung. Der Teufel bietet Jesus wie auf einem Silbertablett alle Reiche dieser Welt dar. Der Preis dafür: Fall vor mir nieder, bete mich an!

Die Frage an uns heißt: Wer ist der Herr meines Lebens?

Wie brisant diese Frage ist, habe ich selber am deutlichsten erlebt auf einer gemeinsamen Reise mit den Dechanten und dem Bischof von Essen. Es ging nach Sizilien. Wir besuchten Palermo und dort auch den armen, heruntergekommenen Stadtteil Brancaccio. Dort hatte vor dreißig Jahren ein mutiger Pfarrer gewirkt: Don Pino Puglisi. Er war 1993 ermordet worden, von der Mafia, die den Stadtteil beherrschte. Der Nachfolger des erschossenen Pfarrers erzählt uns, wie Don Pino Kommunionunterricht gegeben hatte. Auch die Kinder der Mafiosi waren dabei, als der Priester ihnen sagte: "Ihr müsst euch entscheiden - entweder Gott oder Mafia! Entweder - oder. Beides zusammen geht nicht! Man kann nicht zwei Herren dienen!"

Solche Sätze waren wie Sprengstoff in Brancaccio! Das war Christentum in einem Satz! Und das war gefährlich, lebensgefährlich. Wegen solcher Sätze und wegen entsprechender Taten wurde Don Pino im Auftrag der Mafia vor seinem Pfarrhaus erschossen. 2013, schon zwanzig Jahre später, wurde er von der Kirche als Märtyrer seliggesprochen.

Ja, so sind Märtyrer: Das erste Gebot (Du sollst keine anderen Götter neben mir haben!) ist für sie wirklich das Gebot Nummer Eins, in Konflikten machen sie keine Kompromisse, auch nicht mit so einem mächtigen Gegner wie der Mafia. Sie wissen und leben es: Gott ist der Herr und kein Pappkamerad, keine schöne unverbindliche Verzierung aus alten Zeiten. Gott ist in der Mitte und nicht irgendwo am Rand, unter "ferner liefen".

Gott ist der Herr auch meines Lebens. Oder er ist nicht Gott! Er stellt uns vor die Frage: Vor wem gehen wir auf die Knie? Wen oder was stellen wir ganz nach oben? Wen oder was beten wir an? Das "Goldene Kalb", das die alten Israeliten in der Wüste verehrten - Symbol der Macht und des Wohlstands? Wo stehen unsere Goldenen Kälber?

Wen beten wir wirklich an?