Vergiften - entgiften

Predigt am 23.02.2020

Da kaufen Menschen abends in ihrer Stadt friedlich ein - und werden erschossen. Warum? Wenn es denn überhaupt ein "Warum" gibt: Weil sie anders sind, ausländisch aussehen. Im Blick auf den Anschlag von Hanau hat die Bundeskanzlerin vom Gift des Rassismus gesprochen. Rassismus vergiftet. Rassismus tötet.

Wir merken an allen Ecken und Enden, wie das soziale Klima in vielen Ländern, auch bei uns, immer giftiger, immer aggressiver wird. Das Gift schlägt auf die Augen, aufs Herz, aufs Gehirn, auf die Nieren, auf alle Organe. Es macht blind und taub, es tötet das Mitgefühl. Das Gift lässt viele vergessen, dass wir alle Menschen sind! Menschen zwar mit unterschiedlicher Herkunft und Geschichte, aber mit derselben Würde! In der Sprache des Glaubens: Alle Kinder Gottes! Alle Teil einer Menschheitsfamilie.

Stattdessen wird der Hass gepflegt. Eine üble Sprache des Hasses spricht von "Untermenschen", von Menschen zweiter oder dritter Klasse. Wer da alles zugehören kann: Immer wieder die Juden. Die Ausländer, vor allem die Flüchtlinge, die Dunkelhäutigen, die Muslime. Aber auch die Obdachlosen, die Schwachen einer Gesellschaft. Auch Behinderte, Alte und Kranke. Die Schwulen. Alle, die "anders" sind. Und immer stärker viele Politiker, z.B. Bürgermeister, die attackiert werden.

Der Hass, die geschürte und verzerrte Wut, das dumpfe Gefühl, die Dummheit und der Wahn, sie alle sind das Mistbeet, auf dem dann die Gewalt blühen kann. Wer so hassbereit empfindet, denkt und spricht, der kann "durchdrehen", der kann und wird auch so handeln.

Wenn Menschen mit Menschenverachtung infiziert und vergiftet werden - geistig, seelisch -, dann müssen die "heilenden Kräfte" in einer Gesellschaft sich zusammentun, sich bündeln und "entgiften". Gottseidank geschieht das auch. Viele zeigen ihre Solidarität und ihre Anteilnahme. Viele kommen aus der Deckung heraus und gehen auf die Straße. Und helfen, wo sie können.

Das klarste und radikalste "Entgiftungsprogramm" steht im Evangelium. In der Bergpredigt. Berühmte Politiker auch der christlichen Parteien haben gesagt, mit ihr, mit der Bergpredigt, könne man keine Politik machen. "Liebet eure Feinde" - das sei nett gesagt, aber wie, bitte schön, solle das denn gehen?

Merkwürdig: Unser Gast des letzten Jahres, Gregor Gysi, kein Christ, hat sich dazu bekannt. Das war für mich eine seiner stärksten Aussagen. Er wurde an dem Abend in St. Joseph und Medardus gefragt, ob es Worte der Bibel gäbe, die ihn beeindrucken und bewegen. Ja, sagte er, die Feindesliebe in der Bergpredigt. Er sei nach dem Ende der DDR ja Vorsitzender der sozialistischen Partei PDS gewesen und sei als solcher mit Hass, Verachtung und Anfeindungen überschüttet worden. "Ich habe mich bemüht," so sagte er, "nicht zurück zu hassen. Ich habe versucht, den Hass nicht mit Hass und Feindschaft zu beantworten."

Ja, das ist Entgiftung im Sinn der Bibel. Den Hass nicht zur Antwort machen. Den Feind zu lieben heißt nicht, ihm um den Hals zu fallen, heißt nicht, Gefühle zu hegen, wie ich sie meinen Lieben zuhause gegenüber habe. Das wäre unmenschlich! Aber es heißt, die Spirale der Feindschaft und des Hasses zu unterbrechen, die sich immer höher schaukelt. Die Spirale unterbrechen: nicht mehr Schlag und Gegenschlag, nicht mehr "Auge für Auge, Zahn für Zahn"! Sondern: "Wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin!" Da wird dann eine neue und andere Situation geschaffen, eine Verblüffung, eine Überraschung: Da steigt einer aus den Spielregeln aus. Da schlägt einer nicht zurück, womit doch zu rechnen wäre. Da bereitet einer Versöhnung vor. Da erinnert einer durch sein Verhalten an den liebenden Gott, der "seine Sonne aufgehen lässt über Bösen und Guten". Wie kraftvoll das die Welt prägen und verändern kann, hat vor allem der Hindu Mahatma Gandhi gezeigt. Er hat sein Riesenland Indien fast ohne Gewalt und Blutvergießen, vielmehr im Geist der Feindesliebe und Gewaltlosigkeit in die Unabhängigkeit geführt. Er war ein Meister des Entgiftens und trotz anderer Religion ein wahrer Schüler Gottes und Jesu Christi.

Die Worte der Bergpredigt können uns einen guten Anstoß geben. Jeder - auch wir weithin friedlichen Kirchgänger und Bürger mit unserer Distanz zu den heutigen Hasspredigern - jeder trägt aus seiner Lebensgeschichte so manches Unversöhnte, so manche tiefen Abneigungen und Vorurteile, so manches Gift mit sich herum. Und lebt damit wie mit einer Gewohnheit. Vielleicht leidet man noch daran, vielleicht hat man das Leiden und das Gift schon eingekapselt, verdrängt und vergessen. Wie wäre es, wenn wir uns selber entgiften - oder besser: uns von Gott und seinem Evangelium entgiften lassen. Wenn wir das Unversöhnte zur Versöhnung und zum inneren Frieden bringen, wenn wir wieder miteinander reden und so innerlich in Bewegung geraten, hin zu Gott, hin zu den Menschen, hin zu den vermeintlichen Feinden - hin zum Frieden.