Stern über Bethlehem


Heiligabend 24.12.2017

Eine Geschichte, die in der Zukunft spielt – vielleicht 2050? Sie stammt von der Dichterin Marie-Luise Kaschnitz.

Der kleine Junge hockte auf dem Fußboden und kramte in einer alten Schachtel. Er fand da allerlei wertlose Dinge, darunter auch einen silberglänzenden Stern. "Was ist das denn?", fragte er.
"Ein Weihnachtsstern," sagte die Mutter. "Etwas von früher, von einem uralten Fest."
"Was war das für ein Fest?", fragte der Junge.
"Ach, ein langweiliges", sagte die Mutter. "Die ganze Familie stand im Wohnzimmer um einen Baum. Und oben an der Spitze des Baumes war ein Stern. Er sollte an den Stern erinnern, dem die drei Könige folgten, bis sie den kleinen Jesus fanden."
"Der kleine Jesus?", fragte der Junge. "Wer soll das nun wieder sein?"
"Das erzähle ich dir ein anderes Mal," sagte die Mutter, und dann öffnete sie den Deckel des Müllschluckers und gab ihrem Sohn den Stern in die Hand. "Sieh nur, wie alt und hässlich der Stern ist. Du kannst ihn hinunterwerfen und aufpassen, wie lange du ihn noch siehst."
Der Junge warf den Stern in die Röhre des Müllschachtes und lachte, als er verschwand. Aber als es draußen an der Tür geklingelt hatte und die Mutter hinausgegangen war und wiederkam, stand das Kind wie vorher über den Müllschlucker gebeugt. "Ich sehe ihn immer noch," flüsterte er. "Er glitzert. Er ist immer noch da!"


Ob es einmal so kommen wird? Ein Kind, das keine Ahnung mehr hat? Jesus – wer soll das nun wieder sein? Ein Stern, der nur noch in den Müll gehört? Ich hoffe, es kommt nicht so. Und die Dichterin hofft es auch. Und darum der Schluss der Geschichte: Er glitzert. Er ist immer noch da!
Ja, er ist immer noch da. Er leuchtet immer noch. Wären wir sonst hier?

Ein anderer Dichter, der Pfarrer Wilhelm Willms, schrieb vor 40 Jahren, als ich ein junger Priester war, sinngemäß:

Wir brauchen keinen Neonstern, keinen Mercedesstern,
keinen Strohstern.
Wir warten auf einen anderen Stern,
einen aus Fleisch und Blut,
einen, der ein Auge und Ohr für uns hat,
und ein Herz für uns –
und ein Wort für uns.

Wir warten auf einen menschlichen Stern,
der unser Leben hell macht und froh.

Wir warten auf einen Stern,
der uns nicht hinters Licht führt.
Wir brauchen einen Stern,

der uns heimleuchtet.
Heim ins wahre Leben.

Wir brauchen einen Stern wie Jesus.
Der müsste über uns aufgehen,
über jedem Haus.

Wir brauchen einen Stern wie Jesus,
der alle Sterne und Stars
in den Schatten stellt.


Ja, diesen Stern brauchen wir wirklich, in dieser Lichterflut von heute, in dieser Glitzerwelt. Einen Stern, der eine Richtung anzeigt, der Orientierung gibt. Einen Lichtpunkt in dieser verwirrenden und verworrenen Welt. Der Stern von damals, dem die Weisen, die Könige folgten, war unvorhergesehen, eine Überraschung für die Sterndeuter. Er zog nicht die gewohnte Bahn. Und das tat Jesus auch nicht - niemals.

Jesus, wir sehen in dir den Stern,
der die alte Bahn verlassen hat,
die Bahn, die alle Menschen sonst ziehen:
die alte Bahn der Welt – die Bahn des Unrechts,
die Bahn der Lüge,
die Bahn der Gewalt und der
rücksichtslosen Ellenbogen.
Jesus, wir sehen in dir den Stern,
der herausfällt aus den üblichen Bahnen,
der eine ganz andere, eine ganz neue Bahn
eingeschlagen hat,
eine rettende, liebende, heilende Bahn.
Dein Licht gibt uns so viel Licht,
dass wir dich, den göttlichen Glanz, erkennen können
in den Gesichtern der Menschen:
im Gesicht der eigenen Frau oder des eigenen Kindes
wie in den Gesichtern der Fremden und der Armen.
Seit Bethlehem ist jeder Mensch
eine lebendige Monstranz deiner Liebe.
So wie der Stern damals über dem Stall stehen blieb,
bleibe er stehen
hier und heute – über unserer Stadt,
über Lüdenscheid,
über unserem Haus,
über dir und über mir –
er bleibe stehen
und lasse sich Zeit
und nehme uns mit
auf die Bahn Jesu,
diese zweitausend Jahre alte
und immer neu und frisch bleibende Bahn.