H. G. - mit 97 Jahren gestorben

Predigt 26.05.2017

Ich war noch nicht lange Pfarrer in Lüdenscheid, da ging bei mir das Telefon. HG hatte gehört, dass ich eine Fahrt nach Taizé plante, einem Treffpunkt junger Leute, und wollte gern mitfahren. "Wie alt sind Sie denn," fragte ich am Telefon - ich merkte, dass keine Jugendliche dran war. "Einundsiebzig", sagte sie, "aber ich bin noch gut drauf!" So lernten wir uns kennen, und sie meisterte die Einfachheit des Lebens, die Jugendbewegtheit und auch das gelegentliche Chaos des Ortes mit Bravour.

Jetzt, da sie mit 97 Jahren gestorben ist, kommt mir diese Taizé-Erinnerung wie ein Schlüssel zu ihr vor. Es ist das Wort jung, das mir zu HG einfällt. Sie war innerlich jung, selbst noch im hohen Alter. Jung, d.h. hier: lernen wollen, sich weiterentwickeln, nicht stillstehen. Jung heißt: Interesse. - Inter-esse meint wörtlich: dazwischen sein. Nicht abseits, nicht: abgeschlossen haben. Offen für das Leben, für Erkenntnisse und neue Erfahrungen. Offen für Gott, offen für die Menschen, die er geschaffen hat. Offen in dem Bemühen, zur Öffnung der anderen beizutragen. Sie aus dem Schneckenhaus, aus der Abgeschlossenheit oder Einsamkeit herauszuholen. Mittels Gespräch. Sie war eine spirituelle Person, eine engagierte, hartnäckige, oft durchaus dominante Gesprächspartnerin.

Es muss sie hart angekommen sein, dass ein so selbstverständliches Instrument der Offenheit wie das Sehen, das Auge, in den letzten Jahren wegen der Makula-Krankheit nicht mehr funktionierte: Kein Lesen mehr, eine äußerst eingeschränkte Wahrnehmung der Schönheit, eine verminderte Selbstständigkeit. Das ist ihr - verständlicherweise - sehr schwer gefallen und hat einen depressiven Zug in ihr ausgelöst. H., die sich dann mit 95, 96, 97 Jahren mit eiserner Disziplin hinter ihrem Rollator auf der Honseler Straße her schob, um in Bewegung zu bleiben, freute sich auf Besuch, auf Gespräche. Darin lebte sie auf. Sie war bis zum Schluss offen für das Heute und für das Morgen, das sie nicht gleich mit baldigem Ende und Tod verband. Sie gab sich noch Zukunft. Sie hatte noch Zukunft. Sie fühlte sich nicht am Ende.

Und sie hatte, natürlich, mit 97, einen riesigen Raum der Vergangenheit, einen Riesen-Schatz an Erfahrung und Erinnerung. Kurz zusammengefasst:

(Es folgen biografische Angaben, die hier unterbleiben)

Ich glaube, diese Erinnerung an "gestern" hat bei ihr das Heute und Morgen nicht überlagert und erdrückt, wie das sonst oft bei alten Leuten der Fall ist. "Damals war alles besser" oder "wir haben früher ...";: solches hörte man kaum von ihr. Eher war da ein kritischer Vorbehalt gegenüber dem Vergangenen zu spüren, gegen engstirniges Denken, gegen ein Gottesbild, das Gott als Moralwächter und strengen Richter zeichnete, auch gegen die Kirche, die damals Ehen mit andersgläubigen Partnern nicht gerade willkommen hieß. In der Ehe mit ihrem evangelischen Mann fühlte sie sich von der Kirche ausgegrenzt, ja "exkommuniziert" und hat darunter gelitten. Gottlob traf sie Christen, die ihr in der inneren Bedrängnis weiterhalfen und zur "Versöhnung" mit der eigenen Lebenserfahrung und mit der Kirche beitrugen. Und so konnte sie sich von einem eng geführten Christentum befreien und auf die Weite und Schönheit des Glaubens zugehen. Sie vertraute ihrem eigenen Gewissen und ihrer eigenen Glaubensintuition. Und dann war "kein Halten mehr": die sechzig-, siebzig-, achtzig-, neunzigjährige H. war voller Pläne, die sich oft verwirklichten. Mit 80 noch eine Weltreise, bis nach Neuseeland. Kontakte mit charismatischen Glaubenskreisen, Kurse und Tagungen ohne Ende.

Eine intensive Weiterbildung, die theologische und psychologische Aspekte miteinander verbindet. Ein volles theologisches Studium war angestrebt, erschien ihr dann aber doch zu anstrengend. "Ich mache immer, was mir am schwersten fällt," sagte sie gleichwohl den Töchtern. In der Regel wich sie Schwierigem nicht aus. "Grüne Dame" im Krankenhaus, Mitarbeiterin der "Brücke" in der Hospizarbeit, Sterbebegleiterin, Bibelkreise, Einkehrabende - in all dem erfüllte sich ihr Seniorinnenleben. Über Gott und die Welt zu sprechen wurde ihr nie zu viel.

Auch in der Schwäche des hohen Alters, in Fast-Blindheit und manchen Beschwerden der letzten drei, vier Jahre gab sie sich große Mühe, ihr Leben selbst zu gestalten. Die Hilfestellung durch OM, durch ihre Töchter und manche andere nahm sie dankbar an. Der Tod kam gnädig am 15. Mai.

Eichendorffs Gedichtwort findet sich auf der Todesanzeige:

Und meine Seele spannte
weit ihre Flügel aus,
flog durch die stillen Lande,
als flöge sie nach Haus.


Man kann sagen: H. hatte Flügel, innerlich spannte sie sie weit aus nach oben, in Richtung Gott. Das war das "nach Haus", das war die Heimat, die ewige. Auf dem Nachttisch am Bett begleitete sie eine Bildkarte mit dem Wort des Jesaja: Ich bin der Herr, dein Gott, der deine rechte Hand fasst und zu dir spricht: Fürchte dich nicht, ich helfe dir" (Jes 41,13).

Durch alle Furcht und Dunkelheit hindurch tritt H. mit ihrer ganzen reichen erfüllten Lebensgeschichte diesem Gott gegenüber. Ich glaube, sie freut sich darauf. Und ich glaube, Gott auch.