Auge um Auge

Predigt am 19.02.2017

Vor ein paar Jahren heiratete ein Patenkind von mir. Er ist Zahnarzt, und seine Frau leitet ein Geschäft für Brillen. Als ich ihn nach einem möglichen Trauspruch fragte, lachte er und schlug vor: Auge um Auge, Zahn um Zahn!

Nein, das kommt mir nicht vor wie ein guter Trauspruch, obwohl in mancher Ehe ja vielleicht nach diesem Motto verfahren wird. Der Spruch aus dem Alten Testament klingt brutal, aber eigentlich ist er human und war damals ein großer Fortschritt. Er besagt nämlich: Wenn einer dich überfällt und schlägt dir z.B. einen Zahn aus, dann darfst du ihm, um dich zu rächen und den Angriff zu vergelten, nicht das Leben nehmen, sondern eben auch nur einen Zahn. Also: Wie du mir, so ich dir - "mit der gleichen Münze". Aber nicht mit mehr. Wir nennen das heute "Verhältnismäßigkeit der Mittel". Eine notwendige und realistische Stufe, um mit Rache und Strafe umzugehen.

Aber Jesus geht viel weiter. Seine Zuhörer haben wohl gedacht, sie hörten nicht recht. So provozierend ist, was Jesus sagt: Wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin.

Hat das wohl schon einmal jemand ausprobiert? Oder schlägt ein jeder reflexhaft, automatisch zurück? Dem anderen die Wange hinhalten zum Schlag, ist das ein Zeichen von Schwäche? Etwas für Duckmäuser, für Weicheier, die sich alles gefallen lassen? Nein, würde Jesus sagen, es ist ein Zeichen von Stärke. Auf Gewalt verzichten - stärker geht's eigentlich nicht!

Haben Sie vor gut zwanzig, dreißig Jahren den Kinofilm über Mahatma Gandhi gesehen? Gandhi hatte sein Land Indien von der Herrschaft der Engländer befreit. Herrscher gehen selten freiwillig, es kommt in der Regel zum Kampf, zum Blutvergießen, zum Krieg. Gandhi, der die Bergpredigt Jesu sehr liebte, versuchte es mit Gewaltlosigkeit und hatte damit Erfolg. Er hat die Worte Jesu in die Tat umgesetzt - und siehe, es klappte, es ging! Man muss es nur versuchen, man muss nur anfangen damit. Wo kämen wir hin, sagen die Leute schnell und meinen: Das ist doch unmöglich! Der Schweizer Dichter und Pfarrer Kurt Marti, in dieser Woche mit 96 Jahren gestorben, setzt dagegen:

Wo kämen wir hin,
wenn alle sagten:
Wo kämen wir hin,
und niemand ginge,
um nachzuschauen,
wohin man käme,
wenn man ginge.

Schauen wir also nach, in besagtem Gandhifilm. Da waren Tausende Inder unter der Führung Gandhis auf der Straße, um friedlich für bestimmte berechtigte Ziele zu demonstrieren. Die englische Kolonialregierung hatte diesen Zug streng verboten. Es kommt zu einer Szene, die die Nerven der Zuschauer im Kino sehr strapaziert: Die Straße ist vorn abgesperrt von schwer bewaffneten Soldaten. Die Inder rücken vor, auf sie zu. Die erste Reihe der wehrlosen Inder wird von den Soldaten mit Gewehrkolben niedergeschlagen, sie fallen bewusstlos um. Dann die zweite, die dritte Reihe. Alle rücken vor, geben nicht auf, "halten die Wange hin". Die Kamera schwenkt nun hin zu den Gesichtern der englischen Soldaten, zu ihren Augen. Immer mehr bricht das Entsetzen durch über das, was sie da tun und tun müssen: die Scham, die Gewissensbisse, wehrlose Menschen niederknüppeln? Wo steckt die Feigheit, die Schwäche - und wo die Stärke? Die Welt jedenfalls ist geschockt von der Brutalität der einen und aufgewühlt von der Friedfertigkeit der anderen Seite: Und die einen, die englischen Soldaten, können sich unter den Augen der Weltöffentlichkeit solche Brutalität fortan nicht mehr leisten.

Auf diese Weise, vor allem mit gewaltlosen Protestzügen, hat Gandhi die Unabhängigkeit Indiens erreicht. Seine Leute haben eine innere Stärke gezeigt, die schon in Jesu Worten mitklingt. Sie waren bereit zu leiden, Schläge einzustecken - für ein großes Ziel, für die Freiheit. Der Hindu Gandhi vertraute nicht auf die eigenen Fäuste und Ellenbogen, sondern auf Gott. Und wenn man Gott vertraut, dann sagt man nicht so leicht: Das geht doch nicht, das ist doch unmöglich! Gandhi, der Hindu, glaubte wie Jesus: Gott hat Möglichkeiten, die wir uns kaum träumen lassen. Und so hat Gandhi die Bergpredigt Jesu ausprobiert - wie wir sehen, mit großem Erfolg!

Ja, und dann kommt noch: Liebet eure Feinde! Jesus versteht hier unter Liebe sicher nicht das schöne Gefühl; man muss den Feinden nicht um den Hals fallen. Man muss und kann sie nicht lieben, wie man seine Familie und seine Freunde liebt. Aber man kann die Feindschaft "entgiften". Zum Beispiel: keine üble Nachrede gegenüber dem Feind. Ihn nicht überall anschwärzen und schlechtmachen. Alte Geschichten nicht ewig nachtragen. Hassgefühle aufarbeiten. "Abrüstung" im Denken, in der Sprache, in den Vorurteilen, in den Rachegefühlen und Schuldzuweisungen. Das alles wirkt ja wie ein "Kreisverkehr". Ständig kreise ich um diese Feindschaft, sie raubt mir die innere Ruhe und Kraft. Raus aus dem Kreisverkehr - und dann nicht gleich in die nächste Sackgasse, sondern hin auf den Ausweg der Versöhnung, der Vergebung.

Haben Sie Feinde? Vielleicht beten Sie jetzt in dieser Messe für sie - und für sich selber, die Sie womöglich ja auch einen Anteil an der Feindschaft haben. Und denken Sie daran: Gott lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten, und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.