Nur die Liebe zählt

Eine Trauerfeier

Eine meiner Lieblingsautorinnen heißt Marie-Luise Kaschnitz, gestorben 1974. Auf ihrem Grabstein in Bollschweil bei Freiburg fand ich die Worte:
Wohl denen, die gelebt, ehe sie starben.


Mit einem Gedicht von ihr möchte ich beginnen – u.a. heißt es darin:
Glauben Sie - fragte man mich -
an ein Leben nach dem Tode -
und ich antwortete: Ja
Aber dann wusste ich
keine Auskunft zu geben
wie das aussehen sollte
wie ich selber aussehen sollte
dort
Ich wusste nur eines:
Keine Hierarchie von Heiligen
auf goldenen Stühlen sitzend
kein Niedersturz
verdammter Seelen
Nur
nur Liebe frei gewordene
niemals aufgezehrte
mich überflutend ...

Mehr, fragen die Frager,
erwarten Sie nicht nach dem Tode?
Und ich antworte:
Weniger nicht …


Nur Liebe zählt, im Diesseits und im Jenseits, sagt die Dichterin. Niemals aufgezehrt, mich überflutend. Wohl denen, die in der Liebe gelebt, ehe sie starben.
Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei, sagt der Apostel Paulus, aber am größten unter ihnen ist die Liebe.


Wenn ich auf mein eigenes Leben schaue und auf das anderer Menschen (soweit ich ihr Leben erkennen kann), dann frage ich mich mit zunehmendem Alter immer mehr: Wie weit ist die Liebe der „rote“ Faden im Gewebe des Lebens? Die Liebe - das Füreinander, das Miteinander? Sie wird mich überfluten, jenseits der Todesschwelle, hofft die Dichterin. Was für eine Liebe ist das: Liebe Gottes, Liebe der Menschen, beides? Ja, beides. Nur die Liebe zählt: nicht die gesellschaftliche Stellung, nicht die Leistung, nicht der Erfolg. Das alles ist wichtig, aber relativ. Die Liebe ist absolut. Ist der springende Punkt?


In der Todesanzeige heißt es: Wenn die Sonne des Lebens untergeht, leuchten die Sterne der Erinnerung.
Lassen wir also die Sterne der Erinnerung leuchten. Sie leuchten besonders hell, wenn sie auf die Goldader der Liebe stoßen - einer Liebe, die nicht nur im Herzen, sondern auch im Hirn und in den Händen zu finden ist. Herz, Hirn und Hand sind in ihr eine enge und glückliche Verbindung eingegangen. Herz: vor allem als Mittelpunkt der Familie. Hirn: eine nüchterne und eher unromantische, oft kritische Intelligenz, die weiß, was zu tun ist. Und Hand - praktische und pragmatische Begabung, die nicht nur empfindet oder denkt, sondern tut.


Das Mädchen und die junge Frau lernt harte Schicksalsschläge kennen. Bald nach dem Krieg geboren erlebt sie den Weggang des Vaters und die schwere Krankheit der Mutter. Aufenthalte bei Verwandten, auf dem Land tun ihr gut. Nach dem Abitur studiert sie in Bonn Volkswirtschaft, arbeitet weiter als Assistentin am Lehrstuhl, möchte promovieren. Das Hirn ist gefordert, wissenschaftliches Denken liegt ihr, das Hinterfragen, sie schüttelt es nie ab. Aber eine mögliche Karriere an der Uni opfert sie für die Familie, denn das Herz holt das Hirn ein. Nach einer ersten, sehr kurzen Ehe - mit dem Säuglingstod eines Kindes - lernt sie ihn kennen und lieben. Die beiden heiraten 1978. Sie bringt zwei kleine Kinder in diese Ehe mit. Der gemeinsame Sohn wird geboren. Die Familie ist von Anfang an eine Einheit; das fatale Spiel "meine Kinder - deine Kinder" wird nicht mitgespielt.


Die Kinder erleben eine starke tolle Mutter. Liebe bedeutet nicht: weiche Tour, sondern Freiheit mit klaren Regeln. Fördern und fordern geht gut zusammen. "Sie hat viermal das Abitur gemacht", sagen die Kinder scherzhaft und erinnern sich, wie die Mutter sie durch die Prüfungszeit "pusht". "Sie hat alles hundertprozentig gemacht", sagen sie weiter und erzählen, wie energisch, effizient, kundig, diszipliniert und gut organisiert die Mutter war. Wie diskussionsfreudig auch! "Du bist grundsätzlicher als das Bundesverfassungsgericht!", seufzt man mitunter nach langen Diskussionen. Politik, Technik, technische Innovationen – solche eher den Männern zugeschriebene Domänen interessieren sie brennend.


Die Kinder sprechen auch von der handwerklichen und kreativen Begabung der Mutter. Jetzt kommt die "Hand" ins Spiel! Sie bastelt geschickt mit dem Nachwuchs, übernimmt die Bauleitung für das eigene Haus, reagiert praktisch und zielgerichtet.


Im ehrenamtlichen Bereich ist sie engagiert. Die Familie - auch der beruflich in seiner Firma sehr eingespannte Ehemann - gönnt sich ausgedehnte Skifreizeiten, Reisen an die Nordsee, Reisen zur Farm in den USA. Und sieht die Eltern darüber hinaus Golf spielen und zusammen mit drei anderen Paaren ausgedehnte Fahrradtouren unternehmen. Die Mutter sorgt für die Privatsphäre der Familie – die Firma bleibt weithin außen vor.


Seit etwa vier Jahren schiebt sich bei ihr das Thema Gesundheit nach vorn. Das starke Rauchen wirkt sich aus. Der plötzliche Tod ihres Mannes vor genau einem Jahr muss verkraftet werden. Es ist ihre Art, die Realität der Endlichkeit anzunehmen, nicht zu hadern und zu lamentieren, eher nach vorn zu schauen. Sie denkt nach über den Sinn des Lebens und spricht darüber. Im vergangenen Juni kommt sie ins Krankenhaus, wird operiert. Die Kräfte lassen nach, den Kampf um das eigene Leben scheint sie aufzugeben. Ihrem Wunsch entsprechend kann sie zuhause sterben. Nach langer Schlaflosigkeit kommt am 28. Oktober, kurz nach ihrem 69. Geburtstag, der Todesschlaf. Sie kann friedlich und wie erlöst im Beisein ihrer Angehörigen sterben.


Das sind einige Linien ihres Lebens. Sie alle können wahrscheinlich noch vieles andere anfügen. Haben Sie den roten Faden entdeckt? Die in Herz, Hirn und Hand ausgedrückte Liebe - nicht pathetisch, nicht sentimental, den großen Worten und Gefühlsausbrüchen abhold. Aber wirksam da, in den entscheidenden Weichenstellungen des Lebens und im Alltag, jeden Tag neu.


Übrigens: Ihr Name ist lateinisch und heißt auf Deutsch: engelhaft, in der Art der Engel. Auch hier: nicht pathetisch und kitschig. Engel sind Boten der Liebe, zumal der göttlichen. "Wirst du für mich, werd´ ich für dich der Engel sein?", heißt es in einem neueren Kirchenlied. Vielleicht ist sie immer wieder als "rettender Engel" erlebt worden. Ganz gewiss aber als gradliniger guter Mensch – als Mensch der Liebe. Um Marie-Luise Kaschnitz zu wiederholen: Weniger nicht ...